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Newsletter Behindertenhilfe 03/2023
03/2023
Neues aus der Rechtsprechung
Verpflichtung zur Kostenübernahme einer 24-Stunden-Assistenz bei Auszug aus der besonderen Wohnform in die eigene Wohnung
(SG München, Beschluss v. 15.05.2023, S 48 SO 131/23 ER)
Das Sozialgericht (SG) München hatte im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzes darüber zu entscheiden, ob der Leistungsträger die Kosten einer 24-Stunden-Assistenz bei Auszug einer Bewohnerin aus einer besonderen Wohnform in ihre eigene Wohnung vorläufig zu übernehmen hat.
Die 1997 geborene Antragstellerin ist aufgrund einer Cerebralparese pflegebedürftig im Umfang des Pflegegrades 4. Sie lebte in einer besonderen Wohnform, in der sie Leistungen der Eingliederungshilfe und Pflegeleistungen erhielt. Sie wollte zum 01.05.2023 in ihre eigene Wohnung ziehen. Eine geeignete Wohnung konnte sie anmieten. Mit einem Pflegedienst hatte sie den erforderlichen Vertrag für die Erbringung einer 24-Stunden-Assistenz abgeschlossen. Sie wünschte sich ein selbstbestimmtes Leben, das ihr im Rahmen der besonderen Wohnform so nicht möglich sei.
Der zuständige Leistungsträger lehnte ihren Antrag auf Kostenübernahme der erforderlichen 24-Stunden-Assistenz mit der Begründung ab, dass es sich um unverhältnismäßige Mehrkosten im Verhältnis zu den Kosten in der besonderen Wohnform handelt. Im Wege der einstweiligen Anordnung sprach das SG München der Antragstellerin einen vorläufigen Anspruch auf Kostenübernahme der 24-Stunden-Assistenz bis zum 31.12.2023 zu. Das Gericht stellte fest, dass die Antragstellerin einen Anspruch auf ambulante Eingliederungshilfeleistungen und Leistungen der Hilfe zur Pflege hat, die im Rahmen der Eingliederungshilfe mitzubewilligen sind (§ 103 Absatz 2 Satz 1 SGB IX).
Gemäß § 104 Absatz 2 SGB IX sei Wünschen der Antragstellerin, die sich auf die Gestaltung der Leistung richten, dann zu entsprechen, wenn sie angemessen seien. Dies sei dann nicht der Fall, wenn die Höhe der Kosten der gewünschten Leistung die Höhe der Kosten für eine vergleichbare Leistung eines Leistungserbringers unverhältnismäßig übersteige und wenn der Bedarf nach der Besonderheit des Einzelfalles durch die vergleichbare Leistung auch gedeckt werden könne.
Nach Auffassung des Gerichts besteht das Ziel der Eingliederungshilfe im Bereich des Wohnens nach § 113 Absatz 1 Satz 2 SGB IX darin, der Antragstellerin eine möglichst selbstbestimmte und eigenverantwortliche Lebensführung im eigenen Wohnraum zu ermöglichen. Auf Basis dieser Regelung verbunden mit den Regelungen des § 104 Absatz 1 und Absatz 2 SGB IX (Prüfung der Vergleichbarkeit der Leistungen durch den Leistungsträger) haben Menschen mit Behinderungen im Einklang mit Art. 19 der UN-Behindertenrechtskonvention das Recht, gleichberechtigt mit anderen zu entscheiden, wo und mit wem sie leben wollen. Die Entscheidung über die Wohnform tangiere den durch Art. 1 und Art. 2 Grundgesetz absolut geschützten Kernbereich autonomer privater Lebensgestaltung.
Die Antragstellerin war aus Sicht des Sozialgerichts daher nicht auf dem Verbleib in der besonderen Wohnform zu verweisen, da diese nach seiner Auffassung keine "vergleichbare Leistung" zum ambulant betreuten Wohnen darstellt. Das gilt nach Aussagen des Gerichtes auch für die Personen, die vor ihrem Auszug in eine eigene Wohnung langjährig in stationären Einrichtungen gelebt hatten, da sie im Vergleich zu Menschen, die von vornherin ambulant betreut und gepflegt worden waren, nicht schlechter gestellt werden dürfen.
Anmerkung:
Das Gericht führt hinsichtlich der Mehrkosten für die 24-Stunden-Assistenz aus: "Es ist nicht Aufgabe des Gerichts, darüber zu befinden, ob sich ein Sozialsystem, das behinderten Menschen ohne Rücksicht auf die Kosten im Einzelfall ein so hohes Maß an Selbstbestimmung garantiert, auf Dauer finanzierbar ist und ob genügend Pflegekräfte zur Verfügung stehen, um den sich daraus ergebenden Pflegebedarf abzudecken. Dies zu beurteilen und die notwendigen Folgerungen daraus zu ziehen, ist Sache des parlamentarischen Gesetzgebers. Das geltende Recht kennt jedenfalls keinen allgemeinen Kostenvorbehalt."
Es bleibt abzuwarten, ob die Rechtsauffassung des SG München von anderen Sozialgerichten geteilt werden wird.
Die Altersvorgabe bei der Ausschreibung einer Stelle als persönliche Assistenz stellt nicht in jedem Fall eine Altersdiskriminierung dar.
(EuGH, Urteil vom 07.12.2023, C-518/22)
Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hatte darüber zu entscheiden, ob es zulässig ist, dass eine Stellenausschreibung im Rahmen einer persönlichen Assistenz auf eine bestimmte Altersgruppe beschränkt wird.
Die Beklagte ist auf die Erbringung von Assistenzdienstleistungen für Menschen mit Behinderungen spezialisiert. Für eine 28jährige Studentin suchte sie Assistenzkräfte, die sie in allen Lebensbereichen ihres Alltags unterstützen sollten. In der Stellenausschreibung teilte die Beklagte mit, dass die gesuchten Assistenzkräfte "am besten zwischen 18 und 30 Jahre alt sein" sollen. Die Klägerin, eine abgelehnte Bewerberin, die nicht dieser Altersgruppe angehörte, sieht sich wegen ihres Alters diskriminiert.
Das Bundesarbeitsgericht setzte das dort anhängige Verfahren aus und legte die Sache dem EuGH vor. Dieser sollte im Wege eines Vorabentscheidungsersuchens mitteilen, inwieweit zum einen der Schutz vor Diskriminierung wegen des Alters und zum anderen der Schutz vor Diskriminierung wegen einer Behinderung in einer solchen Situation in Einklang gebracht werden können.
Der EuGH kam zu dem Ergebnis, dass im konkreten Fall die Interessen der behinderten Assistenznehmerin Vorrang haben. Nach den deutschen Rechtsvorschriften sei ausdrücklich vorgeschrieben, den individuellen Wünschen von Menschen mit Behinderungen bei der Erbringung von Leistungen der persönlichen Assistenz zu entsprechen. Folglich haben die Betroffenen das Recht zu entscheiden, wie, wo und mit wem sie leben. Aus Sicht des Gerichts ist zu erwarten, dass eine persönliche Assistentin, die derselben Altersgruppe wie die behinderte Assistenznehmerin angehört, sich leichter in deren persönliches, soziales und akademisches Umfeld einfügt. Die Festlegung einer Altersanforderung könne daher im Hinblick auf den Schutz des Rechts auf Selbstbestimmung des behinderten Menschen gerechtfertigt sein.
Anmerkung:
Auf Basis dieser Vorabentscheidung wird das Bundesarbeitsgericht seine Entscheidung zu treffen haben.
Neues aus der Gesetzgebung
Änderungen bei den Leistungen der Grundsicherung zum 01.01.2024
Zum Jahresanfang steigen die Sätze in den Regelbedarfsstufen für alle Hilfeempfänger an. Die folgenden Regelbedarfsstufen gelten ab Januar 2024 für volljährige Grundsicherungsempfänger:
- 563,- € für Regelbedarfsstufe 1 (u.a. Volljährige Alleinstehende/Alleinerziehende)
- 506,- € für Regelbedarfsstufe 2 (Volljährige Partner in Bedarfsgemeinschaft jew.)
- 451,- € für Regelbedarfsstufe 3 (Volljährige in Einrichtungen (SGB XII))
Der Mehrbedarf für gemeinschaftliche Mittagsverpflegung nach § 42b Absatz 2 SGB XII in Werkstätten und vergleichbaren tagesstrukturierenden Maßnahmen steigt zum 01.01.2024 auf 4,13 € je Mittagessen.
Die Festlegung des Bemessungszeitraums für die Ermittlung der Grenze angemessener Wohnkosten in der besonderen Wohnform wurde in 2023 reformiert. Nach § 45a SGB XII wird der Bemessungszeitraum für die durchschnittliche Warmmiete festgelegt auf den 01.10. des Vorvorjahres bis zum 30.06. des Vorjahres. Hierdurch soll eine zeitnähere Berücksichtigung stark steigender Kosten bspw. aufgrund von Heizkostensteigerungen erreicht werden.
In Berlin wurde ab 01.01.2024 ein durchschnittliche Warmmiete von 493,85 € ermittelt. Die Angemessenheitsgrenze nach § 42a Absatz 5 SGB XII in der besonderen Wohnform liegt damit bei 617,31 € (125%-Grenze).
Zum 01.10.2023 wurden die Richtwerte der AV Wohnen in Berlin angepasst. Die Bruttokaltmiete im 1-Personenhaushalt bis 50 qm beträgt nunmehr 449,- € pro Monat, im 2-Personenhaushalt bis 65 qm beträgt sie 543,40 €. Näheres finden Sie im Rundschreiben Soz Nr. 3/2023 der zuständigen Senatsverwaltung.
Weitere Informationen über uns finden Sie auf www.vandrey-hoofe.de
Wir wünschen Ihrer Familie und Ihnen schöne Weihnachtstage und einen guten Start ins neue Jahr!
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