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Newsletter Behindertenhilfe 04/2022
04/2022
Neues aus der Rechtsprechung
Zur Kündigung auf Basis von Ausschlussgründen bzw. einer schuldhaften gröblichen Pflichtverletzung des Bewohners
(LG Rottweil, Urteil v. 08.04.2022, 2 O 435/21)
Das Landgericht (LG) Rottweil hatte im Rahmen einer Räumungsklage über die Wirksamkeit der Kündigung eines Wohn- und Betreuungsvertrags zu entscheiden.
Die Klägerin betreibt eine Behindertenhilfeeinrichtung, in der der Beklagte seit 2010 lebt. Bereits beim Probewohnen vor Beginn des Vertragsverhältnisses kam es zu fremdaggressiven Verhaltensauffälligkeiten des Bewohners. Trotzdem entschied sich die Klägerin für seine Aufnahme. Im Laufe des Vertragsverhältnisses setzten sich diese Verhaltensauffälligkeiten phasenweise fort. Ab 2019 kam es dann zu nahezu täglichen Gewaltdurchbrüchen bei dem Beklagten gegen Mitbewohner, Personal und Sachen. Im Januar und Dezember 2020 machten die Mitarbeiter gegenüber der Klägerin Überlastungsanzeigen. Aufgrund der massiven Zunahme von Verhaltensauffälligkeiten mit Fremdgefährdung sprach die Klägerin mit Schreiben vom 29.12.2020 und 06.07.2021 fristlose Kündigungen aus und stützte sie auf § 6 Absatz 4 und § 20 Absatz 2 des Wohn- und Betreuungsvertrags, den die Parteien abgeschlossen hatten. Diese Paragraphen trafen jeweils Regelungen zum Ausschluss der Pflicht einer Vertragsanpassung. Die Klägerin verwendete keine gesonderten Vereinbarungen zum Ausschluss der Vertragsanpassung und gestaltete die Ausschlussvereinbarung auch nicht als Anlage zum Vertrag. Ferner stützte die Klägerin die Kündigungen auf eine schuldhafte gröbliche Pflichtverletzung des Beklagten, wobei sie selbst einräumte, dass der Beklagte wohl nicht schuldfähig sei.
Das Landgericht erklärte die Kündigung des Wohn- und Betreuungsvertrags für unwirksam und wies die Räumungsklage ab.
Es kam u.a. zu dem Ergebnis, dass es sich bei den Regelungen im Wohn- und Betreuungsvertrag um keine wirksame Vereinbarung zum Ausschluss der Vertragsanpassung nach § 8 Absatz 4 WBVG handelt. Aus Sicht des Gerichts liegt in § 6 Absatz 4 und § 20 Absatz 2 des Wohn- und Betreuungsvertrags weder eine räumlich getrennte Erklärung, noch eine solche in hervorgehobener Form vor, wie sie vom Gesetz verlangt werden. Auch sonst genügen diese Vertragsregelungen der verbraucherschutzrechtlichen Warnfunktion nicht. Die Ausschlüsse seien nicht von dem sonstigen Wortlaut des Vertrages abgesetzt, sodass dem Verbraucher Inhalt und Wirkung derselben nicht hinreichend deutlich gemacht werde. Die Regelungen zum Ausschluss seien vollkommen in die für den Wohn- und Betreuungsvertrag verwendete Urkunde eingegliedert. Das Landgericht vertritt die Auffassung, dass der Ausschluss der Pflicht zur Vertragsanpassung sowohl durch eine gesonderte Vereinbarung neben dem Wohn- und Betreuungsvertrag, als auch durch eine separate Anlage zum Wohn- und Betreuungsvertrag, die gesondert unterzeichnet werden muss, wirksam vereinbart werden kann.
Das Gericht lehnte ferner das Vorliegen des Kündigungsgrundes "schuldhafte gröbliche Pflichtverletzung" ab, da zwischen den Parteien unstreitig sei, dass bei dem Beklagten kein "schuldhaftes" Verhalten vorliegt. Das Landgericht stellte aber klar, dass die Kündigungsgründe in § 12 Absatz 1 Satz 3 WBVG nicht abschließend sind, sodass sehr wohl auch aus einem sonstigen wichtigen Grund gekündigt werden kann.
Das WBVG verlangt ferner, dass der Klägerin das Festhalten am Vertrag "unzumutbar" ist. Bei der hier vorzunehmenden Prüfung, ob der Ausspruch der Kündigung verhältnismäßig ist, kommt das Landgericht Rottweil zu dem Ergebnis, dass die Kündigung unverhältnismäßig ist. Aus Sicht des Gerichtes wiegen die Überlastung der Mitarbeiter und die Gefährdung von anderen Bewohnern und Personal nicht so stark, wie die Tatsache, dass für die Klägerin schon bei Einzug des Beklagten dessen Verhaltensauffälligkeiten erkennbar waren und auch qualitativ vergleichbare Phasen fremdaggressiver Verhaltensauffälligkeiten in den Jahren 2011, 2015 und 2017 bereits vorgekommen waren.
Anmerkung:
Das Urteil des Landgerichts Rottweil setzt eine sich in der Rechtsprechung abzeichnende strenge Auslegung des Begriffes der "Unzumutbarkeit" fort. Letztlich wird diese Rechtsprechung bei den Trägern von Behindertenhilfeeinrichtungen dazu führen, dass zum Schutz von potentiellen Mitbewohnern und Personal Interessenten nicht mehr aufgenommen werden können, wenn der Einrichtung vor oder bei Einzug bereits bekannt ist, dass der zukünftige Bewohner fremdgefährdende Verhaltensauffälligkeiten an den Tag legt.
Dem Landgericht ist im Hinblick auf die Auslegung von § 8 Absatz 4 WBVG zu folgen, wonach Vereinbarungen zum Ausschluss der Vertragsanpassung als deutlich abgesetzte Erklärung mit den Bewohnern vor oder bei Einzug geschlossen werden müssen und es nicht ausreicht, die Regelungen in den Wohn- und Betreuungsvertrag aufzunehmen. Solange der Bundesgerichtshof noch nicht entschieden hat, ob eine solche Vereinbarung auch als Anlage zum Wohn- und Betreuungsvertrag wirksam ist, erscheint es angeraten, dem Gesetzeswortlaut von § 8 Absatz 4 WBVG zu folgen und eine separate Ausschlussvereinbarung abzuschließen, die keine Anlage des Wohn- und Betreuungsvertrags ist. Ferner ist im Wohn- und Betreuungsvertrag in hervorgehobener Form darauf zu verweisen, dass die Vertragsparteien eine gesonderte Ausschlussvereinbarung getroffen haben.
Bewohner müssen dem WBVG-Änderungsvertrag zustimmen, der durch die BTHG-Reform erforderlich geworden ist.
(LG Berlin, Urteil v. 22.02.2022, 6 O 111/21)
Das Landgericht Berlin hatte darüber zu entscheiden, ob die Bewohnerin einer besonderen Wohnform dazu verpflichtet ist, dem Änderungsvertrag des Wohn- und Betreuungsvertrags zuzustimmen, der aufgrund der BTHG-Reform zum 01.01.2020 abgeschlossen werden sollte.
Die beklagte Bewohnerin zog 2008 in die Einrichtung der klagenden Leistungserbringerin ein. Diese übersandte nach Abschluss der neuen Leistungs- und Vergütungsvereinbarung mit der zuständigen Senatsverwaltung im Dezember 2019 einen Änderungsvertrag an die gesetzlichen Betreuer der Bewohnerin, mit dem sie ab Januar 2020 Assistenzkosten i.H.v. 6.818,95 €, Kosten der Unterkunft und Heizung i.H.v. 710,04 €, eine Nahrungsmittelpauschale i.H.v. 147,83 € und eine Haushaltspauschale i.H.v. 88,69 € monatlich vereinbaren wollte.
Die gesetzlichen Betreuer lehnten die Unterzeichnung des Änderungsvertrags ab. Sie behaupteten, dass der Vertragsentwurf der Klägerin dem neuen Leitbild des SGB IX nicht gerecht werde. Aus ihrer Sicht musste zunächst ein Gesamtplanverfahren durchgeführt werden, um die erforderlichen Leistungen festzustellen. Ein Gesamtplansverfahren war hier zwar im Mai 2021 begonnen, jedoch noch nicht abgeschlossen worden. Der Umfang der von der Klägerin zu erbringenden Leistungen sei deshalb noch nicht erkennbar und könne (noch) nicht vertraglich geregelt werden. Zudem übersteige das geforderte Entgelt von 147,83 EUR für Nahrungsmittel die tatsächlichen Ausgaben um 12,22 EUR. Abwesenheiten würden nicht bzw. zu gering berücksichtigt. Außerdem stünden die im Vertragsentwurf erklärten Kosten in Höhe von 88,89 EUR für Materialien in keiner Relation zu den tatsächlich zu erwartenden Kosten.
Die Assistenzkosten waren ab Januar 2020 direkt vom Leistungsträger an die Klägerin gezahlt worden. Weitere geltend gemachte Kosten wurden durch die Beklagte nur teilweise gezahlt.
Das Landgericht verurteilte die Beklagte zur Zustimmung zum Änderungsvertrag und zur Zahlung offener Entgelte i.H.v. rund 1.600,- €. Aus Sicht des Gerichts steht der Klägerin u.a. nach § 313 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) ein Anspruch auf Zustimmung zur Vertragsanpassung zu. Nach dieser Vorschrift kann eine Vertragsanpassung verlangt werden, wenn sich die Umstände, die zur Grundlage des Vertrages geworden sind, nach Vertragsschluss schwerwiegend verändert haben und die Parteien den Vertrag nicht oder mit anderem Inhalt geschlossen hätten. Ein solcher Fall ist nach Auffassung des Gerichts aufgrund der BTHG-Reform gegeben. Die Neuregelung der Eingliederungshilfe im SGB IX bringe eine fundamentale Änderung der Finanzierungsstrukturen mit sich, die in dem bisherigen Wohn- und Betreuungsvertrag zwischen den Parteien nicht abgebildet sei.
Soweit die gesetzlichen Betreuer geltend machen, vor Vertragsanpassung müsse ein Gesamtplanverfahren durchgeführt werden, greift dieser Einwand nach Auffassung des Gerichts nicht durch, da die Feststellung des Bedarfs nicht durch die Klägerin, sondern durch die öffentliche Hand zu erfolgen hat.
Hinweis:
Assistenznehmer sind bei gravierenden Änderungen der rechtlichen Grundlagen der zwischen den Leistungserbringern und ihnen geschlossenen Verträge dazu verpflichtet, erforderlichen Vertragsänderungen zuzustimmen. Allerdings gilt diese Zustimmungsverpflichtung nicht für die Veränderung von Vertragsklauseln, die nicht von den Gesetzesänderungen betroffen sind.
Neues aus der Gesetzgebung
Erhöhung der Regelbedarfsstufen und Einführung von "Wohngeld Plus" zum 01.01.2023
Die Bundesregierung passt zum Jahresanfang die Regelbedarfsstufen für alle Hilfeempfänger an. Die folgenden Regelbedarfsstufen gelten ab Januar 2023 für volljährige Grundsicherungsempfänger:
- 502,- € für Regelbedarfsstufe 1 (u.a. Volljährige Alleinstehende/Alleinerziehende)
- 451,- € für Regelbedarfsstufe 2 (Volljährige Partner in Bedarfsgemeinschaft jew.)
- 402,- € für Regelbedarfsstufe 3 (Volljährige in Einrichtungen (SGB XII))
Ferner tritt zum 01.01.2023 das neu geregelte "Wohngeld Plus" in Kraft. Hiermit verbunden ist eine generelle Anhebung der Wohngeldsätze. Ferner werden eine dauerhafte Heizkomponente und eine Klimakomponente mit eingeführt.
Wohngeldberechtigt sind Mieter, deren Einkommen eine gesetzlich festgeschriebene Grenze unterschreitet. Der Heizkostenzuschuss ist vom Wohngeldbezug abhängig. Wohngeldberechtigt sind gemäß § 3 Absatz 1 Satz 2 Nr. 3 Wohngeldgesetz auch Personen, die in einem Heim im Sinne landesheimrechtlicher Regelungen dauerhaft leben. Heimbewohner werden bei der Berechnung des Wohngeldes als Einpersonenhaushalt mit dem Miethöchstbetrag der jeweiligen Mietenstufe des Wohngeldgesetzes behandelt. Wohngeld wird nur auf Antrag bewilligt. Neu eingeführt wird die Zahlung vorläufigen Wohngeldes, soweit die Feststellung des endgültigen Wohngeldes einige Zeit in Anspruch nehmen wird. Die Einführung des "Wohngeldes Plus" dürfte zu einer Ausweitung des leistungsberechtigten Personenkreises führen.
Weitere Informationen über uns finden Sie auf www.vandrey-hoofe.de
Wir wünschen Ihnen eine schöne Weihnachtszeit und ein glückliches Jahr 2023!
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