- Sie sind hier: Start
- Newsletter
- Ansicht
Newsletter Vandrey & Hoofe 01/2025
01/2025
Neues aus der Rechtsprechung
Der ausschließliche Krankenhausvorbehalt zur Durchführung von Zwangsbehandlungen bei Betreuten ist verfassungswidrig.
(BVerfG, Urteil vom 26.11.2024, 1 BvL 1/24)
Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hatte auf Vorlage des Bundesgerichtshofs (BGH) darüber zu entscheiden, ob es mit der Schutzpflicht des Staates vereinbar ist, dass eine betreute Person in der Einrichtung, in der sie untergebracht ist und in der die erforderliche medizinische Versorgung einschließlich ihrer erforderlichen Nachbehandlung sichergestellt ist, zwangsbehandelt werden darf, da die Betroffene durch die (wiederholte) Einweisung in ein Krankenhaus zur Durchführung der ärztlichen Zwangsmaßnahme in ihrer Gesundheit beeinträchtigt wird.
Die Betroffene leidet an einer paranoiden Schizophrenie sowie an einem schizophrenen Residuum. Für sie ist deswegen seit dem Jahr 2000 eine Betreuung eingerichtet. Der Aufgabenkreis des Berufsbetreuers umfasst unter anderem die Gesundheitssorge und die Aufenthaltsbestimmung. Die Betroffene ist seit dem Jahr 2008 - mit zwischenzeitlichen Krankenhausaufenthalten - in einem Wohnverbund geschlossen untergebracht. Sie lehnt die fachärztlich für erforderlich gehaltene Dauermedikation mit Neuroleptika ab. Mit jeweils betreuungsgerichtlich genehmigten Einwilligungen ihres Betreuers wurde sie regelmäßig in einem dem Wohnverbund nahegelegenen Krankenhaus zwangsweise mit Neuroleptika behandelt. Zuletzt beantragte der Betreuer die Durchführung der Zwangsmedikation im Wohnverbund selbst, um der Betroffenen die wiederholten Krankenhausaufenthalte zu ersparen. Das zuständige Amtsgericht lehnte die Genehmigung ab. Das hiergegen vor dem BGH laufende Beschwerdeverfahren setzte dieser Ende 2023 aus und legte die Sache dem Bundesverfassungsgericht zur Entscheidung vor.
Das BVerfG kam zu dem Ergebnis, dass § 1832 Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 BGB (bis 31.12.2022: § 1906a Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 BGB) nicht mit Art. 2 Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 Grundgesetz (GG) vereinbar ist, in dem das Recht auf körperliche Unversehrtheit grundrechtlich geschützt wird. Dies gilt nach Auffassung des Gerichts, soweit Betreuten im Einzelfall aufgrund der ausnahmslosen Vorgabe, ärztliche Zwangsmaßnahmen im Rahmen eines stationären Aufenthalts in einem Krankenhaus durchzuführen, erhebliche Beeinträchtigungen der körperlichen Unversehrtheit zumindest mit einiger Wahrscheinlichkeit drohen und zu erwarten ist, dass diese Beeinträchtigungen bei einer Durchführung in der Einrichtung, in der die Betreuten untergebracht sind und in welcher der Krankenhausstandard im Hinblick auf die konkret erforderliche medizinische Versorgung einschließlich der Nachversorgung voraussichtlich nahezu erreicht wird, vermieden oder jedenfalls signifikant reduziert werden können, ohne dass andere Beeinträchtigungen der körperlichen Unversehrtheit drohen.
Hinweis:
Das Bundesverfassungsgericht hat die vorläufige Weitergeltung von § 1832 Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 BGB angeordnet und dem Gesetzgeber bis zum 31.12.2026 eine Frist zur Neuregelung dieser gesetzlichen Regelung eingeräumt.
Teilzeitkräften stehen Überstundenzuschläge bei Überschreiten der vereinbarten Arbeitszeit zu.
(BAG, Urteil v. 05.12.2024, 8 AZR 370/20)
Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hatte darüber zu entscheiden, ob eine tarifvertragliche Regelung rechtmäßig war, nach der Teilzeitarbeitskräften erst bei Überschreitung der regelmäßigen Arbeitszeit von Vollzeitarbeitskräften Überstundenzuschläge zustehen.
Der beklagte Arbeitgeber ist ein ambulanter Dialyseanbieter, bei dem die Klägerin als Pflegekraft in Teilzeit im Umfang von 40% eines Vollzeitbeschäftigten tätig ist. Auf das Arbeitsverhältnis findet aufgrund arbeitsvertraglicher Bezugnahme der Manteltarifvertrag (MTV) Anwendung. Nach § 10 Ziff. 7 Satz 2 MTV sind mit einem Zuschlag von 30% nur Überstunden zuschlagspflichtig, die über die monatliche Arbeitszeit von Vollzeitbeschäftigten hinaus geleistet werden und im jeweiligen Kalendermonat nicht durch Freizeitgewährung ausgeglichen werden können. Alternativ zu einer Auszahlung des Zuschlags ist eine Zeitgutschrift im Arbeitszeitkonto möglich.
Das Arbeitszeitkonto der Klägerin wies im März 2018 ein Arbeitszeitguthaben von rund 129 Stunden aus. Der Arbeitgeber hat der Klägerin für diese Zeiten weder Überstundenzuschläge gezahlt, noch im Arbeitszeitkonto eine Zeitgutschrift vorgenommen. Die Klägerin verlangte, ihrem Arbeitszeitkonto als Überstundenzuschläge weitere rund 39 Stunden gutzuschreiben und begehrte die Zahlung einer Entschädigung nach § 15 Abs. 2 Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz (AGG) i.H. eines Vierteljahresverdienstes. Sie war der Ansicht, die Anwendung von § 10 Ziff. 7 Satz 2 MTV benachteilige sie wegen ihrer Teilzeit unzulässig gegenüber vergleichbaren Vollzeitbeschäftigten. Zugleich werde sie wegen ihres Geschlechts mittelbar benachteiligt, denn der Beklagte beschäftige überwiegend Frauen in Teilzeit.
Das Arbeitsgericht wies die Klage ab. Das Landesarbeitsgericht gab der Klage hinsichtlich der Zeitgutschrift statt, wies aber den geltend gemachten Entschädigungsanspruch ab. Das BAG setzte das Verfahren aus und legte die Sache dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) zur Entscheidung vor. Auf Basis von dessen Entscheidung vom 29.07.2024 entschied das BAG, dass der Klage dahingehend stattzugeben war, dass der Klägerin die begehrte Zeitgutschrift sowie eine Entschädigung i.H.v. 250,- € zustehen.
Auf Basis der Entscheidung des EuGH ging das BAG davon aus, dass § 10 Ziff. 7 Satz 2 MTV wegen Verstoßes gegen das Verbot der Benachteiligung von Teilzeitbeschäftigten unwirksam ist. Nach Auffassung des Gerichts muss die Regelung im MTV bei Teilzeitbeschäftigung eine der Teilzeitquote entsprechende anteilige Absenkung der Grenze für die Gewährung eines Überstundenzuschlags vorsehen. Einen sachlichen Grund für eine Ungleichbehandlung von Vollzeit- und Teilzeitbeschäftigten konnte das BAG nicht erkennen.
Aus Sicht des Gerichts war der Klägerin neben der begehrten Zeitgutschrift eine Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG zuzuerkennen. Denn durch die Anwendung der tarifvertraglichen Regelung habe die Klägerin auch eine mittelbare Benachteiligung wegen des Geschlechts erfahren. In der Gruppe der beim Beklagten in Teilzeit Beschäftigten, die dem persönlichen Anwendungsbereich des MTV unterfallen, seien zu mehr als 90 % Frauen vertreten.
Anmerkung:
Das Urteil klärt, dass Teilzeitbeschäftigte ab der ersten Überstunde ebenso wie Vollzeitkräfte einen Anspruch auf Überstundenzuschläge haben. Hiervon abweichende arbeits- oder tarifvertragliche Regelungen sind unzulässig, soweit nicht ausnahmsweise ein sachlicher Grund für die Ungleichbehandlung gegeben ist.
Anspruch auf unentgeltliche und vollständige erste Kopie der Bewohnerakte
(EuGH, Urteil v. 26.10.2023, C-307/22)
Der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) hatte darüber zu entscheiden, ob eine Zahnärztin ihrem Patienten die unentgeltliche Kopie seiner Patientenakte aufgrund der Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) zur Verfügung stellen musste.
Der Patient forderte von der Zahnärztin eine vollständige und kostenlose Kopie seiner Patientenakte nebst sämtlicher weiterer darin befindlicher Dokumente, da er den Verdacht hatte, dass ein Behandlungsfehler vorliegen könnte. Die Zahnärztin wollte diese Kopie nur gegen Zahlung von Kopierkosten zur Verfügung stellen. Hiergegen klagte der Patient und bekam in den ersten beiden Instanzen Recht. Im Rahmen der Revision legte der Bundesgerichtshof (BGH) dem EuGH die Sache vor und bat um Klärung, ob auf Basis der DSGVO eine unentgeltliche Kopie auch dann zur Verfügung zu stellen ist, wenn es um einen "datenschutzfremden Zweck" wie die Prüfung von Schadensersatzansprüchen geht.
Der Europäische Gerichtshof kam zu dem Ergebnis, dass Art. 12 Abs. 5 und Art. 15 Abs. 1 DSGVO dahingehend zu verstehen sind, dass der Patient in jedem Fall einen Anspruch auf eine vollständige und unentgeltliche erste Kopie seiner Patientenakte bzw. sämtlicher über ihn gesammelter Daten hat. Nach Auffassung des Gerichts kommt es hierfür nicht darauf an, welcher Zweck mit der Bitte um Übermittlung einer Kopie verfolgt wird. Die DSGVO fordere keine nähere Begründung, warum eine Kopie sämtlicher gesammelter Daten erbeten wird, so dass es hier auf den verfolgten Zweck nicht ankomme.
Nach Auffassung des EuGH geht die Datenschutz-Grundverordnung der im deutschen Recht verankerten Regelung des § 630g Abs. 2 BGB vor, die besagt, dass der Patient die Kosten der Kopie der Patientenakte selbst zu tragen hat.
Anmerkung:
Das Urteil des EuGH findet auch auf den ambulanten Bereich und die besonderen Wohnformen der Behindertenhilfe Anwendung. Die Leistungsberechtigten haben danach Anspruch darauf, dass ihnen eine kostenlose und vollständige erste Kopie der über sie gesammelten Daten zur Verfügung gestellt wird. Weitere Kopien sind allerdings kostenpflichtig. Ferner haben nur die leistungsberechtigten Personen (und deren rechtliche Vertreter) diesen Anspruch, nicht aber die Erben. Diese können unter bestimmten Voraussetzungen einen Anspruch auf Kopie der Klientenakte haben, müssen hierfür aber die Kopierkosten tragen.
Weitere Informationen über uns finden Sie auf www.vandrey-hoofe.de
Klicken Sie hier, wenn Sie den Newsletter Behindertenhilfe abbestellen möchten.