Neues aus der Rechtsprechung
Nächtliches Türabschließen ohne Genehmigung stellt einen unterbringungsähnlichen Freiheitsentzug dar.
(Beschluss des BGH vom 07.01.2015, XII ZB 395/14)
In
einer Einrichtung, die über geschlossene und offene Wohngruppen
verfügt, wurde auch in einer offenen Wohngruppe die Außentür zwischen
22.00 Uhr und 6.00 Uhr abgeschlossen. Die Bewohner verfügen nicht über
Schlüssel zum Öffnen der Tür. Es ist kein Pförtner anwesend, der
Bewohnern die Tür öffnen kann, die die Wohngruppe nachts verlassen
wollen. Die Bewohner können sich an die Pflegekraft wenden und um
Türöffnung bitten, sie können bei deren Abwesenheit den Notrufknopf
betätigen. Die Öffnung der Tür kann bis zu 30 Minuten dauern.
Der gesetzliche Betreuer einer Bewohnerin beantragte
deren Unterbringung. Das zuständige Betreuungsgericht (Amtsgericht) und
das Beschwerdegericht (Landgericht) lehnten den Unterbringungsbeschluss
ab, da hierfür nach der Einschätzung der Gerichte kein Bedarf bestand.
Aus deren Sicht stellte das nächtliche Abschließen der Außentür weder
eine Unterbringung, noch eine unterbringungsähnliche Maßnahme dar, da
die Tür innerhalb von 30 Minuten geöffnet wird.
Der Bundesgerichtshof schloss sich der Auffassung
dahingehend an, dass das nächtliche Abschließen der Tür keine
Unterbringung im Sinne des § 1906 Abs. 1 BGB ist. Allerdings lag nach
Auffassung des Gerichts sehr wohl eine genehmigungspflichtige
unterbringungsähnliche Maßnahme gemäß § 1906 Abs. 4 BGB vor, so dass es
der Rechtsbeschwerde stattgab.
Eine unterbringungsähnliche Maßnahme nach § 1906
Abs. 4 BGB ist gegeben, wenn dem Betroffenen "über einen längeren
Zeitraum" oder "regelmäßig" die Freiheit entzogen wird. Aus Sicht des
BGH wird durch das wiederkehrende nächtliche Abschließen der Bewohnerin
"regelmäßig" die Freiheit entzogen. Hier komme es nicht auf die Dauer
des Freiheitsentzugs an. Auch eine 30minütige Wartezeit für das
Türöffnen stelle einen Freiheitsentzug dar. Mit der Maßnahme habe die
Einrichtung auch die Begrenzung der Bewegungsfreiheit bezweckt. Die
Einrichtung hatte im Verfahren mitgeteilt, dass das Verschließen der
Außentür die Bewohner am Verlassen der Einrichtung hindern soll, um eine
Selbstgefährdung zu verhindern.
Hinweis:
Der BGH stellt klar, dass das pauschale Verschließen
der Außentür zum Schutz der Bewohner eine freiheitsentziehende Maßnahme
ist, die im Einzelfall der Genehmigung durch das Betreuungsgericht
bedarf.
Allerdings hat der BGH auch noch einmal deutlich
gemacht, dass die Einwilligung des einzelnen Betroffenen in das
Verschließen der Tür (natürlicher Wille reicht aus) die Genehmigung
durch das Betreuungsgericht überflüssig macht. Fehlt es mangels der
Bildung eines natürlichen Willens an der Einwilligungsfähigkeit, sind
die Anordnung der Maßnahme durch den gesetzlichen Betreuer und die
Genehmigung durch das Betreuungsgericht erforderlich.
Der Bundesgerichtshof weißt noch auf einen weiteren
Punkt hin: Zwar sei eine freiheitsentziehende Maßnahme im Zweifelsfall
genehmigungsbedürftig, allerdings sei die Genehmigung dann nicht
erforderlich, wenn ausgeschlossen werden könne, dass der Betroffene die
Einrichtung verlassen will.
(Beschluss des Schleswig-Holsteinischen Oberlandesgerichts vom 07.10.2014, 5 W 37/14)
Das
Schleswig-Holsteinische Oberlandesgericht (OLG) hatte über die
Wirksamkeit der Kündigung eines Wohn- und Betreuungsvertrags und den
Wiedereinzug des Bewohners zu entscheiden, der aus der Psychiatrie in
die Einrichtung entlassen werden sollte.
Im Jahr 2013 war zwischen der
Behindertenhilfeeinrichtung und dem Betroffenen ein Wohn- und
Betreuungsvertrag geschlossen worden. Bereits bei Einzug war bekannt,
dass bei ihm eine geistige Behinderung sowie eine psychische Erkrankung
mit erheblichen Aggressionen und Verhaltensauffälligkeiten besteht.
Während des Aufenthalts in der Einrichtung griff der Bewohner wiederholt
Mitbewohner sowie das Personal an. Im Mai 2014 wurde er in die
Psychiatrie eingewiesen. Zugleich sprach die Einrichtung die fristlose
Kündigung des Wohn- und Betreuungsvertrags wegen schuldhafter
Vertragsverletzungen des Bewohners aus.
Einige Monate verhandelten die gesetzlichen Betreuer
mit der Einrichtung über eine alternative Unterbringung. Als dies
scheiterte, beantragten sie eine einstweilige Anordnung zur
Wiederaufnahme des Bewohners in die Einrichtung.
Das OLG gab der einstweiligen Anordnung statt. Es
erklärte die fristlose Kündigung durch die Einrichtung für unwirksam, da
diese den Wohn- und Betreuungsvertrag mit einem schuldunfähigen
Bewohner nicht aufgrund "schuldhafter Vertragsverletzung" kündigen
durfte. Aus Sicht des Gerichtes war der Einrichtung auch schon bei
Aufnahme des Bewohners bekannt, dass dieser unter erheblichen
Verhaltensauffälligkeiten leidet. Ferner wurde durch den Kostenträger
eine zusätzliche Fachkraft zum Ausgleich des besonderen
behinderungsbedingten Mehrbedarfs des Bewohners bewilligt. Dies alles
verpflichte die Einrichtung zur Wiederaufnahme des Bewohners.
Anmerkung:
Dieser Beschluss des Schleswig-Holsteinischen OLG
verdeutlicht, dass der Abschluss einer wirksamen Vereinbarung zum
Ausschluss der Vertragsanpassung gemäß § 8 Abs. 4 WBVG mit den Bewohnern
wichtig ist. Ferner ist es erforderlich, den Kreis der Personen, die in
die Einrichtung aufgenommen werden können, sehr genau in der Konzeption
zu definieren und auch hier die wortgleichen Ausschlussgründe
aufzunehmen. Eine Kündigung schuldunfähiger Bewohner sollte keinesfalls
wegen "schuldhafter Vertragsverletzung" erfolgen.
(Nichtannahmebeschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 10.06.2015, 2 BvR 1967/12)
Das Bundesverfassungsgericht hatte darüber zu
entscheiden, ob eine Anwendung des § 1906 Abs. 5 BGB die Betroffene in
ihren Grundrechten verletzt. Hiernach hat auch ein
Vorsorgebevollmächtigter die Genehmigung der Anordnung einer
freiheitsentziehenden Maßnahme durch das Betreuungsgericht zu
beantragten.
Die Beschwerdeführerin lebt in einem Pflegeheim. Sie
erhält Leistungen der Pflegestufe III. Sie hatte ihrem Sohn eine
General- und Vorsorgevollmacht erteilt, die ihn auch zur Anordnung
freiheitsentziehender Maßnahmen nach § 1906 BGB berechtigt. Aus Sicht
der Betroffenen hat sie durch diese rechtsgeschäftliche Erklärung in
Form der Vorsorgevollmacht entschieden, dass über den Freiheitsentzug
allein ihr Sohn zu entscheiden hat und sie durch die gerichtliche
Genehmigungspflicht in ihrem Selbstbestimmungsrecht aus Artikel 2 Abs. 1
i.V.m. Artikel 1 Abs. 1 Grundgesetz verletzt wird.
Dieser Rechtsauffassung erteilte das
Bundesverfassungsgericht eine klare Absage. Das Gericht sieht zwar in
dem betreuungsgerichtlichen Genehmigungsvorbehalt hinsichtlich einer
freiheitsentziehenden Maßnahme einen Eingriff in das
Selbstbestimmungsrecht der Betroffenen, allerdings sei dieser
Grundrechtseingriff durch die Wahrnehmung staatlicher Schutzpflichten
gerechtfertigt. Auch diese staatlichen Schutzpflichten ergeben sich aus
Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 2 Abs. 1 Grundgesetz. Die Regelung des § 1906
Abs. 5 BGB stelle eine Umsetzung der staatlichen Schutzpflichten dar.
Eine nicht mehr einwilligungsfähige Person könne die Anordnung eines
Freiheitsentzugs als bedrohlich empfinden. Hierfür mache es keinen
Unterschied, ob der gesetzliche Betreuer oder der
Vorsorgebevollmächtigte die Maßnahme angeordnet hat. Es entspreche daher
der Wahrnehmung staatlicher Schutzpflichten, wenn der Gesetzgeber die
Maßnahme unter den Genehmigungsvorbehalt des § 1906 Abs. 5 BGB stellt.
Anmerkung:
Ordnet ein gesetzlicher Betreuer oder ein
Vorsorgebevollmächtigter eine freiheitsentziehende Unterbringung nach §
1906 Abs. 1 BGB oder eine freiheitsentziehende unterbringungsähnliche
Maßnahme nach § 1906 Abs. 4 BGB an, so bedarf die angeordnete Maßnahme
immer der Genehmigung durch das zuständige Betreuungsgericht. Wird eine
entsprechende Genehmigung nicht vom gesetzlichen Betreuer oder
Vorsorgebevollmächtigten beantragt, darf die freiheitsentziehende
Maßnahme nicht durchgeführt werden. Die Einrichtung sollte sich dann
selbst an das Betreuungsgericht hinsichtlich der Genehmigung der
Maßnahme wenden.
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Fotos © Joe Miletzki (Bundesgerichtshof), Schleswig-Holsteinisches OLG