01/2019

Neues aus der Rechtsprechung

Der Wahlrechtsausschluss für Betreute in allen Angelegenheiten ist verfassungswidrig.

(Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 29.01.2019, 2 BvC 62/14)

Das Bundesverfassungsgericht hatte unter anderem darüber zu befinden, ob Menschen, die in allen rechtlichen Angelegenheiten unter Betreuung stehen, nicht an der Bundestagswahl teilnehmen dürfen.

Eine entsprechende Regelung befindet sich in § 13 Nr. 2 Bundeswahlgesetz (BWahlG). Aufgrund dieser Regelung waren einige Betroffene von der letzten Bundestagswahl ausgeschlossen. Das Bundesverfassungsgericht erklärt die Regelung des § 13 Nr. 2 BWahlG für verfassungswidrig. Aus Sicht des Gerichtes verstößt die Regelung gegen den Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl aus Art. 38 Abs. 1 Grundgesetz (GG) und gegen das Benachteiligungsverbot aus Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG.

Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG besagt, dass Abgeordnete des Deutschen Bundestages in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt werden. Aus Sicht des Gerichtes kann dieser Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl nicht aufgrund einer gesetzlichen Regelung eingeschränkt werden, aufgrund derer der Betroffene sein Wahlrecht verliert, weil er unter allen rechtlichen Aspekten unter Betreuung gestellt wird. Das Gericht lässt es ausdrücklich offen, ob der Gesetzgeber bei einer möglichen Neuregelung des § 13 Nr. 2 BWahlG einen Ausschluss vom aktiven Wahlrecht für bestimmte Personengruppen regeln kann, bei denen davon auszugehen ist, dass die Möglichkeit zur Teilnahme am Kommunikationsprozess zwischen den Wählern und den Regierenden nicht in hinreichendem Umfang besteht.

Das Gericht bemängelt ferner, dass die Regelung des § 13 Nr. 2 BWahlG willkürlich ist. Hier wird lediglich Personen, die unter allen rechtlichen Aspekten unter Betreuung stehen, das Wahlrecht entzogen. Hat jemand allerdings eine wirksame Vorsorgevollmacht erteilt und würde aufgrund einer späteren Erkrankung oder Behinderung zu dem von § 13 Nr. 2 BWahlG umfassten Personenkreis gehören, so verliert er deshalb trotzdem nicht sein Wahlrecht, da die gesetzliche Regelung nur auf die Betreuerbestellung abstellt, nicht jedoch auch auf die Anwendung einer Vorsorgevollmacht.

Anmerkung:

§ 13 Nr. 2 BWahlG wurde in seiner derzeit geltenden Fassung vom Bundesverfassungsgericht für nicht mehr anwendbar erklärt. Die betroffenen Personen können somit an der nächsten Bundestagswahl teilnehmen. Es bleibt abzuwarten, ob der Bundesgesetzgeber eine Neuregelung unter Anwendung der Kriterien des Bundesverfassungsgerichts vornimmt.

In § 6a Abs. 1 Nr. 2 Europawahlgesetz findet sich eine identische Regelung zu § 13 Nr. 2 BWahlG. Durch die Bundesverfassungsgerichts-Entscheidung ist allerdings die Regelung des § 6a Europawahlgesetz nicht automatisch ebenfalls verfassungswidrig. Der von dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts betroffene Personenkreis könnte nur dann an der Europawahl teilnehmen, wenn der Bundesgesetzgeber vorher die Regelungen des § 6a Europawahlgesetz aufheben würde. Dies erscheint allerdings im Hinblick auf die Kürze der Zeit bis zur Europawahl am 26. Mai 2019 als eher unwahrscheinlich.


Die Behindertenhilfeeinrichtung muss einen visuellen Rauchmelder als Hilfsmittel selbst finanzieren.

(Urteil des Bayerischen LSG vom 20.06.2018, L 20 KR 139/17)

Das Bayerische Landessozialgericht (LSG) hatte darüber zu entscheiden, ob der gehörlose Bewohner einer stationären Behindertenhilfeeinrichtung gegenüber seiner Krankenkasse Anspruch auf Kostenübernahme eines visuellen Rauchmelders als Hilfsmittel im Sinne des § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V hat.

Der taubstumme Kläger beantragte bei der beklagten Krankenkasse nach Vorlage einer ärztlichen Verordnung die Kostenübernahme für einen visuellen Rauchmelder in Höhe von 321,00 €. Die Krankenkasse lehnte die Kostenübernahme ab, weil sich der Betroffene ihres Erachtens in vollstationärer Pflege befindet, sodass die Einrichtung das Hilfsmittel selbst vorzuhalten hat. In der stationären Eingliederungshilfeeinrichtung leben ausschließlich hörgeschädigte Menschen. Von den 132 dort installierten visuellen Rauchmeldern hatten die jeweiligen Krankenkassen 125 als Hilfsmittel bewilligt.

Das SG Nürnberg verurteilte die Krankenkasse zur Kostentragung. Der hiergegen von der Krankenkasse eingelegten Berufung gab das Bayerische LSG statt. Aus Sicht des Gerichtes handelt es sich bei dem visuellen Rauchmelder um ein Hilfsmittel im Sinne des § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V. Grundsätzlich habe die Krankenkasse ein solches Hilfsmittel sowohl in der eigenen Wohnung als auch in einem Heim zu finanzieren. Das LSG führt weiter aus, dass nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts die Pflicht der gesetzlichen Krankenversicherung zur Versorgung der Versicherten mit Hilfsmitteln nach dem SGB V bzw. SGB XI dann endet, wenn bei vollstationärer Pflege die Pflicht des Heimträgers auf Versorgung der Heimbewohner mit Hilfsmitteln einsetzt. Der Heimträger habe dann die im Rahmen des üblichen Pflegebetriebs notwendigen Hilfsmittel vorzuhalten. Dies gelte auch für Einrichtungen der Behindertenhilfe nach § 43a SGB XI. Nach Auffassung des Gerichtes hat die Krankenkasse darüber hinaus nur solche Hilfsmittel zur Verfügung zu stellen, die nicht dem Bereich der vollstationären Pflege zuzurechnen sind. Dies seien im Wesentlichen individuell angepasste Hilfsmittel, die lediglich für den einzelnen Betroffenen verwendbar sind und Hilfsmittel, die der Befriedigung eines allgemeinen Grundbedürfnisses außerhalb der Einrichtung dienen.

Aus Sicht des Gerichtes hatte der Betroffene somit nicht gegenüber seiner Krankenkasse einen Anspruch auf Kostenübernahme des visuellen Rauchmelders. Ein entsprechender Anspruch bestehe gegenüber der stationären Behindertenhilfeeinrichtung, die auf die Betreuung hörbehinderter Menschen spezialisiert ist. Dies sei unabhängig davon, ob die Einrichtung solche Hilfsmittel im Rahmen der vereinbarten Kostensätze refinanziert bekommt. 

Anmerkung:

Das Bayerische LSG ließ offen, ob es die Kostentragungspflicht ebenso bei der stationären Einrichtung  gesehen hätte, wenn der visuelle Rauchmelder nur für einen Bewohner mit Hörbehinderung erforderlich wäre, da alle anderen Bewohner*innen einen solchen Rauchmelder nicht benötigen.

Zum wiederholten Mal entscheidet ein Landessozialgericht, dass eine stationäre Behindertenhilfeeinrichtung sog. Pflegehilfsmittel vorzuhalten hat. Es fehlt bisher an einer abschließenden Entscheidung des Bundessozialgerichts. Allerdings ist durchaus fraglich, ob das BSG hier eine andere Rechtsauffassung vertreten würde als die Landessozialgerichte. Im Rahmen der im Jahr 2019 anstehenden Vergütungsverhandlungen aufgrund der Neuregelungen durch das Bundesteilhabegesetz erscheint es ratsam, die Kosten für (Pflege-)Hilfsmittel, die die Einrichtungen auch ab 2020 als sog. gemeinschaftliche Wohnformen nach § 43a SGB XI zu finanzieren haben, mit in die Vergütungen einzukalkulieren. Ein mittlerweile häufig benötigtes Pflegehilfsmittel ist der Patientenlifter.


Neues aus der Gesetzgebung

Änderungen des Teilzeit- und Befristungsgesetzes im Jahr 2019 – „Brückenteilzeit“

Der Gesetzgeber hat im Jahr 2019 einige Änderungen am Teilzeit- und Befristungsgesetz (TzBfG) vorgenommen. Kernpunkt der Reform ist die Einführung der sog. "Brückenteilzeit". Diese „zeitlich begrenzte Verringerung der Arbeitszeit“ ist in § 9a TzBfG aufgenommen worden. Sie tritt neben die bisherige Regelung des § 8 TzBfG, der die bisherige Teilzeitregelung enthält. Dieser Paragraph wurde jetzt umbenannt in „zeitlich nicht begrenzte Verringerung der Arbeitszeit“. Damit hat der Gesetzgeber nunmehr die Möglichkeit geschaffen, entweder ohne zeitliche Begrenzung oder mit zeitlicher Begrenzung die Arbeitszeit verringern zu können.

Anspruch auf die sog. Brückenteilzeit haben Arbeitnehmer*innen, deren Arbeitsverhältnis länger als sechs Monate bestanden hat. Der Zeitraum der Arbeitszeitreduzierung muss mindestens ein Jahr betragen und darf höchstens fünf Jahre betragen. Ein Anspruch auf zeitlich begrenzte Arbeitszeitreduzierung haben Arbeitnehmer*innen nur gegenüber Arbeitgebern, die in der Regel mehr als 45 Arbeitnehmer*innen beschäftigen. Hierbei werden Auszubildende nicht mitgerechnet. Der Arbeitgeber hat ebenso wie bei der zeitlich nicht begrenzten Arbeitszeitverringerung nach § 8 auch bei der zeitlich begrenzten Arbeitszeitverringerung nach § 9a ein Recht, diese abzulehnen, soweit betriebliche Gründe dagegenstehen. Eine Besonderheit des § 9a Abs. 2 ist, dass Arbeitgeber, die mehr als 45 aber weniger als 200 Beschäftigte haben, auch dann die zeitlich begrenzte Arbeitszeitverringerung ablehnen können, wenn je nach Größe des Unternehmens bereits eine bestimmte Anzahl an Beschäftigten (zwischen 4 und 14) die zeitlich begrenzte Arbeitszeitverringerung in Anspruch genommen hatten.

Wer einen Anspruch gemäß § 9a TzBfG gegenüber dem Arbeitgeber geltend macht, ist an den festgelegten Zeitraum und Umfang der Arbeitszeitverringerung gebunden. Nach Rückkehr in die Vollzeit können Beschäftigte erst wieder nach Ablauf eines Jahres einen erneuten Antrag auf zeitlich begrenzte Arbeitszeitverringerung stellen.

Der Gesetzgeber hat zugleich die Regelungen des § 9 TzBfG zur Verlängerung der Arbeitszeit neu und genauer gefasst. Hat ein teilzeitbeschäftigter Arbeitnehmer dem Arbeitgeber in Textform seinen Wunsch nach Verlängerung der Arbeitszeit angezeigt, so hat der Arbeitgeber diesen bei Besetzung eines Arbeitsplatzes bevorzugt zu berücksichtigen, es sei denn, die folgenden Gründe sprechen dagegen:

  • Bei dem freien Arbeitsplatz handelt es sich nicht um einen der Tätigkeit des Arbeitnehmers entsprechenden Arbeitsplatz.
  • Der teilzeitbeschäftigte Arbeitnehmer ist nicht mindestens gleich geeignet wie ein vom Arbeitgeber bevorzugter Bewerber.
  • Arbeitszeitwünsche anderer teilzeitbeschäftigter Arbeitnehmer oder dringende betriebliche Gründe stehen einer Berücksichtigung entgegen.

Ein „freier Arbeitsplatz“ im Sinne des § 9 TzBfG liegt vor, wenn der Arbeitgeber eine entsprechende neue Stelle geschaffen hat oder einen aktuell unbesetzten Arbeitsplatz neu besetzen will.

 

Wegfall der Lebensaltersregelung bei Kündigungen

Zum 01.01.2019 hat der Gesetzgeber § 622 Abs. 2 Satz 2 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) gestrichen. Der Abs. 2 des § 622 BGB enthält die Kündigungsfristen, die ein Arbeitgeber bei der Kündigung eines Arbeitsverhältnisses einzuhalten hat, soweit dieses mindestens zwei Jahre bestanden hat. Nach Ablauf von zwei Beschäftigungsjahren erhöht sich die normale Kündigungsfrist von vier Wochen auf einen Monat zum Ende des Kalendermonats. Diese Frist verlängert sich bei Anstieg der Beschäftigungsjahre. Nach 20 Beschäftigungsjahren hat der Arbeitgeber eine Kündigungsfrist von sieben Monaten zum Ende eines Kalendermonats einzuhalten. Dies ist die maximale Kündigungsfrist.

§ 622 Abs. 2 Satz 2 BGB traf die Regelung, dass für die Berechnung der Beschäftigungsdauer Zeiten, die vor der Vollendung des 25. Lebensjahres eines Arbeitnehmers bzw. einer Arbeitnehmerin lagen, nicht berücksichtigt wurden. Diese Regelung hat der Gesetzgeber nun ersatzlos gestrichen. Somit finden die verlängerten Kündigungsfristen auch auf Arbeitnehmer*innen Anwendung, die jünger als 25 Jahre alt sind.


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