Neues aus der Rechtsprechung
Das Arbeitszeitgesetz findet auch auf Erzieher*innen Anwendung, die über einen längeren Zeitraum in einer Wohngruppe wohnen.
(Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 08.05.2019, 8 C 3.18)
Das Bundesverwaltungsgericht hatte darüber zu
entscheiden, ob die Regelungen des Arbeitszeitgesetzes (ArbZG) auf
Erzieher*innen Anwendung finden, wenn sie über einen längeren Zeitraum
in einer Wohngruppe von Kindern und Jugendlichen wohnen.
Der klagende Träger der Kinder- und Jugendhilfe
betreibt u.a. Wohngruppen, in denen regelmäßig jeweils sechs Kinder und
Jugendliche von drei Erziehern betreut werden. Im Rahmen der hierbei
praktizierten alternierenden Betreuung (WaB-Modell) wohnt jeweils einer
der Erzieher für zwei bis sieben Tage durchgehend in der Wohngruppe. Der
zweite Erzieher hat tagsüber Dienst. Der dritte Erzieher hat frei.
Mit dem angefochtenen Bescheid gab das beklagte Land
dem Kläger auf, die Dienstpläne der Erzieher im Einklang mit den
Vorgaben des Arbeitszeitgesetzes auszugestalten. Der Kläger verlor in
allen drei Instanzen.
Das
Bundesverwaltungsgericht entschied, dass die Anwendung des
Arbeitszeitgesetzes auf die in den WaB-Gruppen beschäftigten Erzieher
nicht nach § 18 Abs. 1 Nr. 3 ArbZG
ausgeschlossen ist. § 18 Abs. 1 Nr. 3 ArbZG regelt, dass das
Arbeitszeitgesetz keine Anwendung findet auf Arbeitnehmer*innen, die in
häuslicher Gemeinschaft mit den ihnen anvertrauten Personen
zusammenleben und sie eigenverantwortlich erziehen, pflegen oder
betreuen. Das Gericht war der Auffassung, dass ein gemeinschaftliches
Zusammenleben nur dann gegeben ist, wenn ein gemeinsames Wohnen und
Wirtschaften auf längere Zeit erfolgt. Aus Sicht der Richter ist dies
nur dann der Fall, wenn das gemeinschaftliche Zusammenleben auf
personelle Kontinuität sowie nahezu permanente Verfügbarkeit der
Arbeitnehmer*innen angelegt und davon geprägt ist, dass sich Arbeits-
und Ruhezeiten nicht voneinander trennen lassen. Dieses Verständnis des
§ 18 Abs. 1 Nr. 3 ArbZG stehe im Einklang mit
dem Unionsrecht. Gemessen daran stelle das von der Klägerin praktizierte
Modell kein Zusammenleben in häuslicher Gemeinschaft dar.
Anmerkung:
§ 18 Abs. 1 Nr. 3 ArbZG
selbst regelt als Voraussetzung nicht, dass ein gemeinsames
Zusammenleben "auf längere Zeit" angelegt sein muss. Es erschließt sich
aus der bisherigen Veröffentlichung des Bundesverwaltungsgerichts nicht,
warum dies zwingende Voraussetzung sein soll. Es bleibt abzuwarten, ob
sich aus der noch ausstehenden Urteilsbegründung hierzu mehr ergeben
wird.
(Urteil des OVG Berlin-Brandenburg vom 02.08.2018, OVG 12 B 12.18)
Das
Oberverwaltungsgericht (OVG) Berlin-Brandenburg hatte darüber zu
entscheiden, ob ein Träger der Behindertenhilfe, der Einrichtungen im
Land Brandenburg betreibt, ein Recht auf Einsichtnahme in
Vergütungsvereinbarung hat, die der zuständige Sozialhilfeträger mit
weiteren Einrichtungen abgeschlossen hatte.
Der Klägerin beantragte bei dem Beklagten die
Einsicht in Vergütungsvereinbarungen nach § 75 Abs. 3 SGB XII, die
dieser mit weiteren Einrichtungen geschlossen hatte. Sie stützte ihr
Begehren auf § 1 Akteneinsichts- und Informationszugangsgesetz (AIG) des
Landes Brandenburg. Im Laufe des Verwaltungsverfahrens teilte sie mit,
dass sie Einsicht in die "blanken" Entgeltsätze sämtlicher Träger
begehrt. Sämtliche Sondervereinbarungen mit einzelnen Trägern könnten
vom Beklagten geschwärzt werden.
Das Verwaltungsgericht Frankfurt (Oder) wies die
Klage zunächst ab. Das OVG Berlin-Brandenburg gab dem
Akteneinsichtsbegehren der Klägerin hingegen im begehrten Umfang statt.
Aus Sicht des Gerichts steht der Klägerin als
juristischer Person des Privatrechts ein Akteneinsichtsrecht nach § 1
AIG zu, da weder überwiegende öffentliche noch private Interessen einem
solchen Begehren entgegenstehen. Durch die Einsichtnahme in
anonymisierte Daten besteht nach Auffassung des OVG nicht die Gefahr,
dass Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse anderer Träger bekannt werden (§
5 Abs. 1 Nr. 3 AIG).
Eine klare Absage erteilte das OVG
Berlin-Brandenburg der von dem Beklagten vertretenen Rechtsauffassung,
dass ein Akteneinsichtsrecht gemäß § 4 Abs. 2 Nr. 4 AIG zu versagen war,
weil dadurch die ordnungsgemäße Erfüllung der Aufgaben des Beklagten
erheblich beeinträchtigt werden könnte. Der Beklagte interpretierte die
Norm dahingehend, dass er ein Recht auf Geheimhaltung der entsprechenden
Daten habe, da er anderenfalls in der Erfüllung seiner sachlichen
Aufgaben, also der Verhandlung weiterer Vergütungsvereinbarungen,
beeinträchtigt wäre. Das Gericht stellte klar, dass der Gesetzgeber § 4
Abs. 2 Nr. 4 AIG nicht in dieser Weise verstanden wissen wollte. Die
Norm beziehe sich allein auf den übermäßigen Verwaltungsaufwand bei der
Aufbereitung und Sichtung der Akten für eine begehrte Einsichtnahme.
Das OVG Berlin-Brandenburg machte in der
Urteilsbegründung weiter deutlich, dass nach seiner Auffassung eine
erhebliche Beeinträchtigung der Aufgaben des Beklagten durch
Veröffentlichung der anonymisierten Vergütungssätze weiterer
Einrichtungen sehr zweifelhaft ist, wie dies von dem Beklagten im
Verfahren behauptet wurde. Das Gericht verwies darauf, dass
entsprechende Daten im Land Berlin öffentlich zugänglich sind.
Ferner verwies das Gericht auf die Rechtsprechung
des Bundessozialgerichts zur Offenlegung von Vergleichsdaten im Rahmen
des externen Vergleichs im Bereich der Pflegeeinrichtungen. Zwar sei die
Regelung des § 75 Abs. 2 Satz 10 SGB XII (ab 01.01.2020 § 124 Abs. 3
SGB IX) nicht identisch mit der vergleichbaren Regelung des SGB XI, aber
nach Ansicht des Gerichts ist nicht zu erkennen, warum sich das auf die
Offenlegungspflicht beziehen soll.
Anmerkung:
Das Urteil des Oberverwaltungsgerichts
Berlin-Brandenburg ist sehr zu begrüßen. Es wird helfen, die Praxis der
Sozialhilfeträger in Brandenburg auf Verweigerung der Offenlegung von
Vergleichsdaten zu beenden.
Aktuell stellt sich für viele Träger in Brandenburg
die Frage, ob ihnen die von den Grundsicherungsabteilungen in den
Sozialämtern bis zum 30. Juni 2019 zu ermittelnden angemessenen
durchschnittlichen Warmmieten offengelegt werden. Ohne Offenlegung
können Träger nicht einschätzen, ob ihre Wohnkostenkalkulationen im
Bereich der besonderen Wohnformen ab 2020 angemessen im Sinne des § 42a
Abs. 5 SGB XII n.F. sind. Sollte eine Offenlegung nicht erfolgen, kann
ein Antrag auf Einsicht in die zur Ermittlung des Durchschnittsbetrags
herangezogenen Akten nach § 1 AIG unter Verweis auf das hiesige Urteil
sinnvoll sein.
Anforderungen
nach Datenschutz-Grundverordnung und Verbraucherstreitbeilegungsgesetz
sind in den Wohn- und Betreuungsvertrag einzuarbeiten.
Aktuell sind insbesondere die Träger von stationären
Behindertenhilfeeinrichtungen in Deutschland damit befasst, ihre Wohn-
und Betreuungsverträge zu überarbeiten, um sie an die Erfordernisse der
Eingliederungshilfereform ab 2020 anzupassen. Die Trennung von
Eingliederungshilfe und Grundsicherungsleistungen muss in die Verträge
eingearbeitet werden. Es sind Wohnkosten (Bruttowarmmiete und
eventueller Zuschlag nach § 42a Abs. 5 Satz 4 SGB XII in der Fassung ab
01.01.2020) und Sachleistungspauschalen zu kalkulieren, die die
Bewohner*innen der besonderen Wohnformen ab 2020 an die Einrichtungen zu
entrichten haben und entsprechende vertragliche Regelungen zu treffen.
Ferner müssen Regelungen zu den Kosten der Fachleistung in der
Eingliederungshilfe aufgenommen werden. Darüber hinaus ist der
leistungsberechtige Personenkreis zu definieren. Es sind eventuell
(weitere) Ausschlussgründe zu regeln und ggf. weitere erforderliche
Anpassungen vorzunehmen.
Im Rahmen der Überarbeitung von Verträgen fällt
immer wieder auf, dass viele Einrichtungen die bereits in den
vergangenen Jahren erforderlich gewordenen Anpassungen der Wohn- und
Betreuungsverträge noch nicht vorgenommen haben. Insbesondere wurden
häufig die Datenschutzregelungen noch nicht an die
Datenschutz-Grundverordnung (DS-GVO) und das neue
Bundesdatenschutzgesetz (BDSG) oder die kirchlichen Datenschutzgesetze
angepasst. Ferner fehlt häufig der Hinweis nach § 36
Verbraucherstreitbeilegungsgesetz in den Verträgen. Bei vielen älteren
Verträgen ist es darüber hinaus angeraten, die zivilgerichtliche
Rechtsprechung der vergangenen Jahre zur Unzulässigkeit einzelner
Klauseln in den Wohn- und Betreuungsverträgen umzusetzen.
Die DS-GVO und das Verbraucherstreitbeilegungsgesetz
bringen darüber hinaus Verpflichtungen zur Anpassung der Webseiten mit
sich, die zeitnah umgesetzt werden sollten, soweit dies noch nicht
erfolgt ist. In diesem Zusammenhang wird auf einen Beschluss des
Landgerichts Würzburg vom 13.09.2018 (Az. 11 O 1741/18 UWG) verwiesen,
wonach eine Datenschutzerklärung, die nicht den Anforderungen der DS-GVO
entspricht, sowie die Nutzung eines Kontaktformulars auf einer
unverschlüsselten Internetseite Wettbewerbsverstöße darstellen, die
abgemahnt werden können. Erfreulicherweise gibt es zwischenzeitlich
weitere Rechtsprechung, die einen entsprechenden Wettbewerbsverstoß
verneint. Derzeit ist die Rechtsprechung hierzu aber noch sehr
uneinheitlich.