03/2019

Neues aus der Rechtsprechung

Schutzpflichten von Einrichtungen der Behindertenhilfe für Menschen mit einer geistigen Behinderung.

(Bundesgerichtshof, Urteil vom 22.08.2019, III ZR 113/18)

Der Bundesgerichtshof (BGH) hatte darüber zu entscheiden, inwieweit den Betreiber einer Einrichtung für Menschen mit geistiger Behinderung Schutzpflichten im Zusammenhang mit dem Baden treffen.

Die Bewohnerin der beklagten Einrichtung leidet unter dem Prader-Willli-Syndrom und einer Intelligenzminderung. Sie bat die Bezugsbetreuerin baden zu dürfen, was diese gestattete. In den vergangenen Jahren hatte die Bewohnerin dies immer ohne Probleme selbständig bewältigt. Die Mischbatterie, an der sie sich heißes Wasser in eine Sitzbadewanne in einer Dusche einließ, war nicht mit besonderen Sicherheitsvorkehrungen hinsichtlich eines Verbrühungsschutzes versehen. Die Bewohnerin ließ unbeaufsichtigt derart heißes Wasser ein, dass sie sich Verbrennungen II. und III. Grades an den Füßen und den Unterschenkeln zuzog. Sie benötigte Hauttransplantationen. Es kam zu erheblichen Komplikationen, die dazu führten, dass sie heute auf den Rollstuhl angewiesen ist.

Die Bewohnerin machte ein Schmerzensgeld von 50.000,- € und eine monatliche Rentenzahlung von 300,- € gegen den Einrichtungsträger geltend. Das zuständige Landgericht und Oberlandesgericht wiesen die Klage gegen den Heimträger zunächst ab. Der BGH hob diese Entscheidung auf und verwies die Sache zurück ans Oberlandesgericht.

Das Gericht führt aus, dass durch den Heimvertrag Obhutspflichten der Einrichtung gemäß § 241 Abs. 2 BGB zum Schutz der körperlichen Unversehrtheit der ihr anvertrauten Bewohnerin begründet werden. Ebenso bestehe eine allgemeine Verkehrssicherungspflicht zum Schutz der Bewohner vor Schädigungen, die ihnen wegen Krankheit oder sonstiger körperlicher oder geistiger Einschränkungen durch sie selbst oder durch die Einrichtung und bauliche Gestaltung des Heims drohen. Diese Pflichten seien jedoch auf die in vergleichbaren Heimen üblichen (gebotenen) Maßnahmen begrenzt, die mit einem vernünftigen finanziellen und personellen Aufwand realisierbar sind. Maßstab sei das Erforderliche und das für die Bewohner und das Betreuungspersonal Zumutbare.

Aus Sicht des BGH sollen diese Erwägungen auch für die Bestimmung der Obhuts- und Verkehrssicherungspflichten eines Heimträgers gelten, soweit in DIN-Normen enthaltene technische Regelungen bestimmte als regelungsbedürftig erkannte Gefahrenlagen beschreiben. Bewohner, die dem Träger zum Schutz ihrer körperlichen Unversehrtheit anvertraut sind, könnten erwarten, dass der Träger sie vor einer Gefahrenlage schütze, soweit sie selbst auf Grund körperlicher oder geistiger Einschränkungen nicht in der Lage seien, die Gefahr zu erkennen und angemessen auf sie zu reagieren. Um die daraus folgende Obhutspflicht zu erfüllen, muss der Träger, soweit dies mit einem vernünftigen finanziellen und personellen Aufwand möglich und für die Bewohner sowie das Betreuungspersonal zumutbar ist, nach seinem Ermessen entweder die Empfehlungen der DIN-Norm umsetzen oder aber die erforderliche Sicherheit gegenüber der dieser Norm zugrunde liegenden Gefahr auf andere Weise gewährleisten, um Schäden der Bewohner zu vermeiden.

Nach Auffassung des Gerichts ist im vorliegenden Fall die DIN-Norm DIN EN 806-2 einschlägig. Der DIN-Norm ist über ihren unmittelbaren Anwendungsbereich hinaus allgemeingültig zu entnehmen, dass bei Warmwasseranlagen das Risiko von Verbrühungen besteht, wenn die Auslauftemperatur mehr als 43 °C beträgt, und deshalb in Einrichtungen mit einem besonders schutzbedürftigen Benutzerkreis (Krankenhäuser, Schulen, Seniorenheime usw.) spezielle Sicherheitsvorkehrungen zur Verminderung des Risikos von Verbrühungen erforderlich sind.

Aus Sicht des BGH hatte die beklagte Einrichtung entweder die Verpflichtung, eine Mischbatterie mit einer Temperaturbegrenzung zu installieren oder die klagende Bewohnerin während des Badens zu beaufsichtigen. Beides war nicht geschehen.


Die grobe Pflichtverletzung von gesetzlichen Betreuern kann ausnahmsweise dazu führen, dass der Heimvertrag gekündigt werden darf.

(Urteil des OLG Frankfurt a.M. vom 29.05.2019, 2 U 121/18)

Das Oberlandesgericht (OLG) Frankfurt hatte darüber zu entscheiden, ob eine Behindertenhilfeeinrichtung den Wohn- und Betreuungsvertrag (WBV) mit einer Bewohnerin aus wichtigem Grund kündigen durfte, weil sie zwar nicht der Bewohnerin, aber deren gesetzlicher Betreuerin eine Vertragspflichtverletzung vorwarf.

Die klagende Einrichtung hatte den WBV mit der Bewohnerin gekündigt, nachdem es über einen längeren Zeitraum zu diversen Vorfällen mit ihrer Mutter als ihrer gesetzlichen Betreuerin und deren Lebensgefährten gekommen war. Der Lebensgefährte hatte die Mitarbeiter*innen der Einrichtung bei seinen Besuchen wiederholt verbal herabgewürdigt und beschimpft. Insbesondere eine Mitarbeiterin beleidigte er immer wieder und rempelte sie wiederholt auf dem Gang an. Dieser Mitarbeiterin war es nach einiger Zeit nicht mehr möglich, die Bewohnerin zu betreuen aus Angst vor weiterem aggressivem Verhalten des Lebensgefährten der gesetzlichen Betreuerin. Ein gegen ihn ausgesprochenes Hausverbot blieb wirkungslos, da er dagegen gerichtlich vorging.

Die gesetzliche Betreuerin bemängelte insgesamt die Qualität der Leistungen der Einrichtung und schaltete die Heimaufsicht ein, die zu einer anlassbezogenen Prüfung ins Haus kam, aber keine Mängel feststellen konnte.

Diverse Gesprächsangebote der Einrichtung nahm die gesetzliche Betreuerin nicht wahr. Als es schließlich zu einem Gespräch kam, stellten ihr Lebensgefährte und sie sämtliche behaupteten Vorfälle in Abrede.

Nach Ausspruch der Kündigung strengte die Einrichtung eine Räumungsklage vor dem Landgericht Frankfurt an. Hier wurde die Klage abgewiesen, da aus Sicht des Gerichts die Pflichtverletzungen der gesetzlichen Betreuerin nicht der Bewohnerin selbst zugerechnet werden konnten. Das OLG Frankfurt gab der dagegen gerichteten Berufung der klagenden Einrichtung statt und sprach ihr einen Räumungsanspruch gegen die Bewohnerin zu.

Aus Sicht des Gerichts stand der Einrichtung das Recht zur Kündigung des WBV aus wichtigem Grund zu, da der gesetzlichen Betreuerin eine gröbliche schuldhafte Vertragspflichtverletzung gemäß § 12 Abs. 1 Satz 3 Nr. 3 WBVG vorzuwerfen war, die der Bewohnerin zuzurechnen war. Die Beklagte sei aufgrund einer Nebenpflicht des WBV dazu verpflichtet, der klagenden Einrichtung das Erbringen der Leistungen zu ermöglichen und hierbei zu kooperieren. Praktisch treffe diese Pflicht nicht die beklagte Bewohnerin selbst, sondern ihre gesetzliche Betreuerin, die für sie die vertragswesentlichen Handlungen übernehme.

Das OLG stellte aber klar, dass der gesetzlichen Betreuerin sehr wohl ein Beschwerderecht hinsichtlich (angeblich) vorhandener Mängel zusteht, sie ebenso das Recht hatte, die Heimaufsicht einzuschalten, auch wenn die behaupteten Mängel nicht vorlagen. Dieses Verhalten allein hätte nach Auffassung des Gerichts keinen wirksamen Kündigungsgrund dargestellt. Hierfür bedurfte es darüber hinausgehender besonderer Umstände.

Entsprechende besondere Umstände sah das Gericht als gegeben an, da die gesetzliche Betreuerin nicht auf ihren Lebensgefährten eingewirkt hatte, um das aggressive Verhalten zu unterlassen und darüber hinaus selbst gänzlich bestritt, dass ein solches Verhalten überhaupt vorgelegen haben soll. Eine entsprechende Zeugenbefragung der Mitarbeiter*innen der klagenden Einrichtung hatte für das Gericht aber zweifelsfrei erwiesen, dass die Vorwürfe gegen den Lebensgefährten zu Recht erhoben worden waren.

Anmerkung:

Ein Gericht hat erstmals einer Einrichtung ein Kündigungsrecht wegen Vertragspflichtverletzung zugesprochen, die nicht durch die Vertragspartnerin selbst, sondern deren gesetzliche Betreuerin begangen wurde. Aus dem Urteil wird deutlich, dass gesetzliche Betreuer sehr wohl das Recht haben, sich - auch vehement - für die Rechte ihrer Betreuten gegenüber der Einrichtung stark zu machen. Dies soll selbst dann gelten, wenn behauptete Mängel tatsächlich nicht vorliegen. Zugleich stellt das Gericht klar, dass die Einrichtung nicht jedes Verhalten von gesetzlichen Betreuern tolerieren muss und dass die Bewohner sich gravierendes Fehlverhalten ihrer gesetzlichen Betreuer und deren Erfüllungsgehilfen zurechnen lassen müssen.


Hinweis zu Entgelterhöhungen ab 2020 in besonderen Wohnformen.

Die Ankündigung von Entgelterhöhungen muss ggf. auch für 2020 durchgeführt werden.

In den meisten Bundesländern werden für die besonderen Wohnformen ab 2020 zunächst Übergangsvergütungen zwischen den Kostenträgern und den Trägern der Behindertenhilfe vereinbart. In den Jahren 2020/2021 sollen dann die neuen Entgelte in der Eingliederungshilfe verhandelt werden.

Soweit Einrichtungen an einer pauschalen Fortschreibung hinsichtlich der Übergangsvergütungen teilnehmen oder individuelle Entgeltverhandlungen zur Übergangsvergütung führen, haben sie zu beachten, dass sie eine entsprechende Entgelterhöhung ab 2020 gemäß § 9 Absatz 2 WBVG mindestens vier Wochen vor deren Inkrafttreten gegenüber den Bewohner*innen anzukündigen und zu begründen haben. Das dürfte jedenfalls für alle Einrichtungen gelten, die mit bereits bei ihnen lebenden Bewohner*innen Änderungsverträge zu den bisherigen Wohn- und Betreuungsverträgen abschließen. Bei Aufhebung bisheriger Wohn- und Betreuungsverträge und Abschluss von Neuverträgen kommt § 9 Absatz 2 WBVG nicht zur Anwendung.


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Foto: © Joe Miletzki (Bundesgerichtshof)


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