01/2020

Neues aus der Rechtsprechung

 

GPS-Uhr mit Alarmfunktion kann ein von der gesetzlichen Krankenversicherung zu leistendes Hilfsmittel sein.

(LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil v. 17.09.2019, L 16 KR 182/18)

Das Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen-Bremen hatte darüber zu entscheiden, ob der an Trisomie 21 leidende Kläger Anspruch auf eine GPS-Uhr mit Alarmfunktion als Hilfsmittel der gesetzlichen Krankenversicherung hat.

Der Kläger leidet an einer geistigen Behinderung, die mit Weglauftendenz und Orientierungslosigkeit einhergeht. Bei ihm sind ein GdB von 100 sowie die Merkzeichen „H“, „B“ und „G“ festgestellt. Er erhält Leistungen des Pflegegrades 5 von der Pflegeversicherung. Der zuständige Facharzt des Klägers beantragte die Kostenübernahme für eine GPS-Notfalluhr als Hilfsmittel der GKV, da der Kläger zuvor bereits zweimal orientierungslos aufgefunden worden war. Dies GPS-Notfalluhr schlägt Alarm, sobald sich der Betroffene aus einem vorher begrenzten Areal entfernt. Der Kläger hatte zuvor andere Arten von Notrufsystemen nicht toleriert und eigenständig entfernt. Die beklagte Krankenkasse lehnte die Kostenübernahme ab, da das MDK-Gutachten zu dem Ergebnis kam, dass es sich bei der Uhr um einen Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens handelt.

Das zuständige Sozialgericht gab der Krankenkasse Recht. Diese Entscheidung wurde vom LSG aufgehoben. Das LSG kam zu dem Ergebnis, dass der Kläger sehr wohl gegen die Krankenkasse einen Anspruch auf Versorgung mit der begehrten GPS-Notfalluhr als Hilfsmittel im Rahmen des mittelbaren Behinderungsausgleichs gemäß § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V hat. Dem stehe auch nicht entgegen, dass die GPS-Uhr nicht im Hilfsmittelverzeichnis der GKV aufgeführt ist, da es sich hierbei um eine reine Auslegungs- und Orientierungshilfe handele.

Ebenso wenig folgte das LSG der Rechtsauffassung der Krankenkasse, dass es sich bei der GPS-Uhr um einen Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens handelt. Dies wäre nur dann der Fall, wenn die GPS-Uhr auch von gesunden Menschen im täglichen Leben verwendet wird. Tatsächlich ist die Uhr aber insbesondere für demenzkranke Personen entwickelt worden, um bei bestehender Weglauftendenz und Orientierungslosigkeit möglichst lange ein selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen.

Anmerkung:

Das Gericht kommt zu dem Ergebnis, dass die begehrte GPS-Uhr bei dem Kläger das Grundbedürfnis auf Mobilität im Nahbereich sicher stellen kann und dadurch die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft ermöglichen kann. Die Krankenkasse ist hier zur Kostentragung des Hilfsmittels  im Rahmen des mittelbaren Behinderungsausgleichs verpflichtet.


Eingliederungshilfeleistungen setzen kein (alkohol-)abstinentes Leben des Anspruchsberechtigten voraus.

(SG Frankfurt/Oder, Gerichtsbescheid vom 10.12.2019, S 9 SO 16/18)

Das Sozialgericht (SG) Frankfurt/Oder hatte darüber zu entscheiden, ob dem Kläger Eingliederungshilfeleistungen nach § 53 SGB XII zustehen. Der beklagte brandenburgische Landkreis hatte die Fortbewilligung dieser Leistungen abgelehnt, da der Kläger aufgrund einer bestehenden geistigen Behinderung sowie einer bestehenden Alkoholerkrankung nicht in der Lage war, das von dem Landkreis in die Teilhabezielvereinbarung aufgenommene Ziel „abstinente Lebensführung“ einzuhalten. Aus Sicht des Landkreises waren daraufhin die Ziele der Eingliederungshilfe für den Kläger nicht mehr erreichbar.

Das Gericht kam zu dem Ergebnis, dass die Nichteinhaltung des Zieles der abstinenten Lebensführung durch den Kläger nicht dazu führen kann, dass er keinen Anspruch mehr auf Eingliederungshilfeleistungen hat. Er gehöre eindeutig zu dem anspruchsberechtigten Personenkreis und benötige Unterstützung bei der Bewältigung seiner täglichen Lebensstrukturierung und Erhaltung der Wohnung sowie des Arbeitsplatzes in einer WfbM.

Die Nichterreichbarkeit des Zieles eines abstinenten Lebens führt nach Auffassung des Gerichtes nicht dazu, dass der Kläger keinen Anspruch auf Eingliederungshilfe mehr hat. § 53 SGB XII regele nicht nur als Voraussetzung die Beseitigung der Folgen einer wesentlichen Behinderung, sondern es genüge vielmehr die Minderung der Folgen einer solchen Behinderung. Da der Kläger unter Berücksichtigung seiner behinderungsbedingten Einschränkungen nur mit Hilfe von Eingliederungshilfeleistungen in der Lage sei, nach seinen Möglichkeiten am gemeinschaftlichen Leben teilzunehmen, seien entsprechende Maßnahmen unentbehrlich zum Erreichen des Eingliederungshilfeziels. Aus Sicht des Gerichtes würde sich ohne Eingliederungshilfeleistungen der Alkoholkonsum des Klägers gänzlich unkontrolliert vollziehen, was zu einer vollständigen Isolation mit der Folge eines rasch fortschreitenden körperlichen und geistigen Verfalls führen würde.

Anmerkung:

Das Sozialgericht Frankfurt/Oder hat der Rechtsauffassung des Landes Brandenburg und seiner Landkreise eine Absage erteilt, wonach Menschen mit Behinderungen bei einer bestehenden Alkoholabhängigkeit dazu verpflichtet sind, ein abstinentes Leben zu führen, um Anspruch auf Eingliederungshilfeleistungen zu haben. Die von dem beklagten Landkreis zunächst eingelegte Berufung hat dieser zwischenzeitlich wieder zurückgezogen. Das Verfahren wurde durch unsere Kanzlei geführt.


Grenzen der Obhutspflichten bei der Begleitung zur Toilette.

(Urteil des OLG Karlsruhe vom 18.09.2019, 7 U 21/18)

Das Oberlandesgericht Karlsruhe hatte darüber zu entscheiden, ob die Krankenkasse einer Bewohnerin, die bei einem Toilettengang gestürzt war, die Behandlungskosten von der beklagten Pflegeeinrichtung als Schadensersatz fordern konnte.

Die demente Bewohnerin war von der Pflegekraft zur Toilette begleitet worden und war mit ihrer Hilfe auf dem Toilettensitz sicher zum Sitzen gekommen. Nach dieser üblichen Routine verließ die Pflegekraft zum Schutz der Intimsphäre der Bewohnerin die Toilette und wartete vor der Tür. Es war abgesprochen, dass die Bewohnerin nicht alleine aufsteht. Trotz Absprache hatte die Bewohnerin versucht, allein aufzustehen und war dabei gestürzt.

Das Gericht wies die Berufung der klagenden Krankenkasse zurück und sprach ihr keinen Anspruch auf Erstattung von Behandlungskosten zu.

Aus Sicht des OLG Karlsruhe treffen die Pflegeeinrichtung Obhutspflichten zum Schutz der körperlichen Unversehrtheit der Bewohnerin, die begrenzt sind auf die in Pflegeheimen üblichen Maßnahmen, die mit einem vernünftigen finanziellen und personellen Aufwand realisierbar sind. Maßstab müssen das Erforderliche und das für die Heimbewohner und das Pflegepersonal Zumutbare sein. Dabei sei insbesondere auch zu beachten, dass beim Wohnen in einem Heim die Würde sowie die Interessen und Bedürfnisse der Bewohner vor Beeinträchtigungen zu schützen und die Selbständigkeit, die Selbstbestimmung und die Selbstverantwortung der Bewohner zu wahren und zu fördern sind. Angesichts der teilweise schwierigen Entscheidungen sei dem Pflegepersonal ein Beurteilungsspielraum einzuräumen. Maßgeblich ist aus Sicht des Gerichts, ob im konkreten Einzelfall die Entscheidung des Pflegepersonals vertretbar war. Maßstab bei der Beurteilung der Pflegeleistungen sei es nicht, jeden Unfall durch weitgreifende Sicherungsmaßnahmen vermeiden. Ein allumfassender Schutz könne im Spannungsfeld zwischen Freiheitsrecht einerseits und dem Recht auf körperliche Unversehrtheit andererseits nicht gewährt werden.

Das OLG kam zu dem Ergebnis, dass die gestürzte Bewohnerin trotz ihrer Demenz noch in der Lage war, sich an Absprachen zu halten, sodass die Pflegekraft darauf vertrauen durfte, dass sie nicht allein von der Toilette aufzustehen versucht. Bei der Abwägung zwischen Sicherungsbedürfnis und Intimsphäre bestünden aufgrund der Demenzerkrankung keine Besonderheiten, da auch fortgeschritten Demenzkranke regelmäßig noch Scham empfinden würden und dies unter Umständen nur nicht mehr ausdrücken könnten.

Anmerkung:

Auch Einrichtungen der Behindertenhilfe sehen sich immer häufiger mit Schadensersatzforderungen der Krankenkassen bei Sturzereignissen konfrontiert. Daher ist die Rechtsprechung der Zivilgerichte zu Haftungsfragen in Pflegeeinrichtungen auch von hoher Relevanz für die besonderen Wohnformen der Behindertenhilfe.


Wir wünschen Ihnen schöne Pfingsttage! Bleiben Sie gesund!

 

Fotos: © LSG Niedersachsen-Bremen


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