Neues aus der Rechtsprechung
GPS-Uhr mit Alarmfunktion kann ein von der gesetzlichen Krankenversicherung zu leistendes Hilfsmittel sein.
(LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil v. 17.09.2019, L 16 KR 182/18)
Das
Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen-Bremen hatte darüber zu
entscheiden, ob der an Trisomie 21 leidende Kläger Anspruch auf eine
GPS-Uhr mit Alarmfunktion als Hilfsmittel der gesetzlichen
Krankenversicherung hat.
Der Kläger leidet an einer geistigen Behinderung,
die mit Weglauftendenz und Orientierungslosigkeit einhergeht. Bei ihm
sind ein GdB von 100 sowie die Merkzeichen „H“, „B“ und „G“
festgestellt. Er erhält Leistungen des Pflegegrades 5 von der
Pflegeversicherung. Der zuständige Facharzt des Klägers beantragte die
Kostenübernahme für eine GPS-Notfalluhr als Hilfsmittel der GKV, da der
Kläger zuvor bereits zweimal orientierungslos aufgefunden worden war.
Dies GPS-Notfalluhr schlägt Alarm, sobald sich der Betroffene aus einem
vorher begrenzten Areal entfernt. Der Kläger hatte zuvor andere Arten
von Notrufsystemen nicht toleriert und eigenständig entfernt. Die
beklagte Krankenkasse lehnte die Kostenübernahme ab, da das
MDK-Gutachten zu dem Ergebnis kam, dass es sich bei der Uhr um einen
Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens handelt.
Das zuständige Sozialgericht gab der Krankenkasse
Recht. Diese Entscheidung wurde vom LSG aufgehoben. Das LSG kam zu dem
Ergebnis, dass der Kläger sehr wohl gegen die Krankenkasse einen
Anspruch auf Versorgung mit der begehrten GPS-Notfalluhr als Hilfsmittel
im Rahmen des mittelbaren Behinderungsausgleichs gemäß § 33 Abs. 1 Satz
1 SGB V hat. Dem stehe auch nicht entgegen, dass die GPS-Uhr nicht im
Hilfsmittelverzeichnis der GKV aufgeführt ist, da es sich hierbei um
eine reine Auslegungs- und Orientierungshilfe handele.
Ebenso wenig folgte das LSG der Rechtsauffassung der
Krankenkasse, dass es sich bei der GPS-Uhr um einen Gebrauchsgegenstand
des täglichen Lebens handelt. Dies wäre nur dann der Fall, wenn die
GPS-Uhr auch von gesunden Menschen im täglichen Leben verwendet wird.
Tatsächlich ist die Uhr aber insbesondere für demenzkranke Personen
entwickelt worden, um bei bestehender Weglauftendenz und
Orientierungslosigkeit möglichst lange ein selbstbestimmtes Leben zu
ermöglichen.
Anmerkung:
Das Gericht kommt zu dem Ergebnis, dass die begehrte
GPS-Uhr bei dem Kläger das Grundbedürfnis auf Mobilität im Nahbereich
sicher stellen kann und dadurch die Teilhabe am Leben in der
Gesellschaft ermöglichen kann. Die Krankenkasse ist hier zur
Kostentragung des Hilfsmittels im Rahmen des mittelbaren
Behinderungsausgleichs verpflichtet.
(SG Frankfurt/Oder, Gerichtsbescheid vom 10.12.2019, S 9 SO 16/18)
Das Sozialgericht (SG) Frankfurt/Oder hatte darüber
zu entscheiden, ob dem Kläger Eingliederungshilfeleistungen nach § 53
SGB XII zustehen. Der beklagte brandenburgische Landkreis hatte die
Fortbewilligung dieser Leistungen abgelehnt, da der Kläger aufgrund
einer bestehenden geistigen Behinderung sowie einer bestehenden
Alkoholerkrankung nicht in der Lage war, das von dem Landkreis in die
Teilhabezielvereinbarung aufgenommene Ziel „abstinente Lebensführung“
einzuhalten. Aus Sicht des Landkreises waren daraufhin die Ziele der
Eingliederungshilfe für den Kläger nicht mehr erreichbar.
Das Gericht kam zu dem Ergebnis, dass die
Nichteinhaltung des Zieles der abstinenten Lebensführung durch den
Kläger nicht dazu führen kann, dass er keinen Anspruch mehr auf
Eingliederungshilfeleistungen hat. Er gehöre eindeutig zu dem
anspruchsberechtigten Personenkreis und benötige Unterstützung bei der
Bewältigung seiner täglichen Lebensstrukturierung und Erhaltung der
Wohnung sowie des Arbeitsplatzes in einer WfbM.
Die Nichterreichbarkeit des Zieles eines abstinenten
Lebens führt nach Auffassung des Gerichtes nicht dazu, dass der Kläger
keinen Anspruch auf Eingliederungshilfe mehr hat. § 53 SGB XII regele
nicht nur als Voraussetzung die Beseitigung der Folgen einer
wesentlichen Behinderung, sondern es genüge vielmehr die Minderung der
Folgen einer solchen Behinderung. Da der Kläger unter Berücksichtigung
seiner behinderungsbedingten Einschränkungen nur mit Hilfe von
Eingliederungshilfeleistungen in der Lage sei, nach seinen Möglichkeiten
am gemeinschaftlichen Leben teilzunehmen, seien entsprechende Maßnahmen
unentbehrlich zum Erreichen des Eingliederungshilfeziels. Aus Sicht des
Gerichtes würde sich ohne Eingliederungshilfeleistungen der
Alkoholkonsum des Klägers gänzlich unkontrolliert vollziehen, was zu
einer vollständigen Isolation mit der Folge eines rasch fortschreitenden
körperlichen und geistigen Verfalls führen würde.
Anmerkung:
Das Sozialgericht Frankfurt/Oder hat der
Rechtsauffassung des Landes Brandenburg und seiner Landkreise eine
Absage erteilt, wonach Menschen mit Behinderungen bei einer bestehenden
Alkoholabhängigkeit dazu verpflichtet sind, ein abstinentes Leben zu
führen, um Anspruch auf Eingliederungshilfeleistungen zu haben. Die von
dem beklagten Landkreis zunächst eingelegte Berufung hat dieser
zwischenzeitlich wieder zurückgezogen. Das Verfahren wurde durch unsere
Kanzlei geführt.
(Urteil des OLG Karlsruhe vom 18.09.2019, 7 U 21/18)
Das Oberlandesgericht Karlsruhe hatte darüber zu
entscheiden, ob die Krankenkasse einer Bewohnerin, die bei einem
Toilettengang gestürzt war, die Behandlungskosten von der beklagten
Pflegeeinrichtung als Schadensersatz fordern konnte.
Die demente Bewohnerin war von der Pflegekraft zur
Toilette begleitet worden und war mit ihrer Hilfe auf dem Toilettensitz
sicher zum Sitzen gekommen. Nach dieser üblichen Routine verließ die
Pflegekraft zum Schutz der Intimsphäre der Bewohnerin die Toilette und
wartete vor der Tür. Es war abgesprochen, dass die Bewohnerin nicht
alleine aufsteht. Trotz Absprache hatte die Bewohnerin versucht, allein
aufzustehen und war dabei gestürzt.
Das Gericht wies die Berufung der klagenden
Krankenkasse zurück und sprach ihr keinen Anspruch auf Erstattung von
Behandlungskosten zu.
Aus Sicht des OLG Karlsruhe treffen die
Pflegeeinrichtung Obhutspflichten zum Schutz der körperlichen
Unversehrtheit der Bewohnerin, die begrenzt sind auf die in Pflegeheimen
üblichen Maßnahmen, die mit einem vernünftigen finanziellen und
personellen Aufwand realisierbar sind. Maßstab müssen das Erforderliche
und das für die Heimbewohner und das Pflegepersonal Zumutbare sein.
Dabei sei insbesondere auch zu beachten, dass beim Wohnen in einem Heim
die Würde sowie die Interessen und Bedürfnisse der Bewohner vor
Beeinträchtigungen zu schützen und die Selbständigkeit, die
Selbstbestimmung und die Selbstverantwortung der Bewohner zu wahren und
zu fördern sind. Angesichts der teilweise schwierigen Entscheidungen sei
dem Pflegepersonal ein Beurteilungsspielraum einzuräumen. Maßgeblich
ist aus Sicht des Gerichts, ob im konkreten Einzelfall die Entscheidung
des Pflegepersonals vertretbar war. Maßstab bei der Beurteilung der
Pflegeleistungen sei es nicht, jeden Unfall durch weitgreifende
Sicherungsmaßnahmen vermeiden. Ein allumfassender Schutz könne im
Spannungsfeld zwischen Freiheitsrecht einerseits und dem Recht auf
körperliche Unversehrtheit andererseits nicht gewährt werden.
Das OLG kam zu dem Ergebnis, dass die gestürzte
Bewohnerin trotz ihrer Demenz noch in der Lage war, sich an Absprachen
zu halten, sodass die Pflegekraft darauf vertrauen durfte, dass sie
nicht allein von der Toilette aufzustehen versucht. Bei der Abwägung
zwischen Sicherungsbedürfnis und Intimsphäre bestünden aufgrund der
Demenzerkrankung keine Besonderheiten, da auch fortgeschritten
Demenzkranke regelmäßig noch Scham empfinden würden und dies unter
Umständen nur nicht mehr ausdrücken könnten.
Anmerkung:
Auch Einrichtungen der Behindertenhilfe sehen sich
immer häufiger mit Schadensersatzforderungen der Krankenkassen bei
Sturzereignissen konfrontiert. Daher ist die Rechtsprechung der
Zivilgerichte zu Haftungsfragen in Pflegeeinrichtungen auch von hoher
Relevanz für die besonderen Wohnformen der Behindertenhilfe.
Fotos: © LSG Niedersachsen-Bremen