02/2020

Neues aus der Rechtsprechung

 

Es besteht ein Anspruch auf 4% Zinsen bei verspäteter Zahlung durch den Leistungsträger.

(BSG, Urteil v. 03.07.2020, B 8 SO 15/19 R - Terminsbericht)

Das Bundessozialgericht (BSG) hatte darüber zu entscheiden, unter welchen Voraussetzungen ein Leistungsträger verspätet gezahlte Sozialleistungen zu verzinsen hat.

Die Klägerin erhielt von dem beklagten Sozialhilfeträger von August 2015 bis Juli 2016 Grundsicherungsleistungen nach dem 4. Kapitel des SGB XII. Das Sozialamt übernahm in diesem Zeitraum die Kosten für Unterkunft und Heizung nur teilweise. Die Klägerin lies den Bewilligungsbescheid zunächst bestandskräftig werden und stellte erst später einen Nachprüfungsantrag nach § 44 SGB X wegen der zu geringen Zahlungen der Kosten für Unterkunft und Heizung.

Der Nachprüfungsantrag wurde zunächst abgelehnt. Die hiergegen erhobene Klage gewann die Klägerin und erhielt eine Nachzahlung durch das Sozialamt. Allerdings weigerte es sich, den Betrag mit 4% ab Fälligkeit zu verzinsen. Hiergegen erhob die Klägerin erneut Klage. Das BSG sprach der Klägerin in dritter Instanz einen Zinsanspruch nach § 44 Abs. 1 SGB I zu.

Ansprüche auf Geldleistungen sind nach Ablauf eines Kalendermonats nach dem Eintritt ihrer Fälligkeit zu verzinsen. Aus Sicht des BSG werden Ansprüche auf Sozialleistungen mit ihrem Entstehen fällig. Sie entstehen, sobald die im Gesetz bestimmten materiell-rechtlichen Anspruchsvoraussetzungen vorliegen.

Das BSG führt weiter aus, dass die Anspruchsvoraussetzungen auf höhere Leistungen der Unterkunft und Heizung von August 2015 bis Juli 2016 durch das rechtskräftige Urteil des Sozialgerichts vorgelegen haben. Dem stehe die Bestandskraft des ursprünglich höhere Leistungen ablehnenden Bescheids nicht entgegen. Wird eine Leistung zu Unrecht abgelehnt, könne der Anspruch zwar nicht durchgesetzt werden, solange die Bestandskraft des Bescheids fortwirkt, er sei aber gleichwohl entstanden.

Anmerkung:

Das Urteil hat grundsätzliche Bedeutung für die Verzinsung von Ansprüchen auf Sozialleistungen. Das BSG stellt klar, dass der Zinsanspruch ab dem Monat nach Antragstellung entsteht, wenn zu diesem Zeitpunkt der vollständige Leistungsantrag vorgelegen hat - unabhängig davon, wann eine rechtskräftige Entscheidung hierzu vorliegt.

Nach § 44 Abs. 2 SGB I beginnt die Verzinsung frühestens nach Ablauf von sechs Monaten nach Eingang des vollständigen Leistungsantrags. Lässt sich ein Leistungsträger also mit der Entscheidung des Antrags und damit verbunden mit der Zahlung der Leistungsentgelte mehr als sechs Monate Zeit, hat er die Entgelte ab dem zweiten Monat nach Antragseingang zu verzinsen.


Die Kosten des Gebärdendolmetschers zur Ausübung einer ehrenamtlichen Tätigkeit sind unter bestimmten Voraussetzungen Eingliederungshilfeleistungen.

(LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 12.03.2020, L 15 SO 33/18)

Das Landessozialgericht (LSG) Berlin-Brandenburg hatte darüber zu entscheiden, unter welchen Voraussetzungen die Kosten eines Gebärdendolmetschers zur Ausübung einer ehrenamtlichen Tätigkeit des behinderten Menschen Assistenzleistungen im Rahmen der Eingliederungshilfe sein können.

Der gehörlose Kläger ist ehrenamtlich als Fußballschiedsrichter in der Landesliga Berlin tätig. Er war aufgrund herausragender Leistungen in eine Fördermaßnahme des Schiedsrichterteams Leistungskader berufen worden. Er benötigt für die Teilnahme an Lehrgängen, den Gemeinschaften, Spielauswertungen und Durchführung einer Pflicht-Patenschaft einen Gebärdendolmetscher. Einen Teil der Kosten trägt der Verband, für den er das Ehrenamt ausübt. Den Rest muss er selbst tragen. Da er lediglich über rund 1.600,- € an monatlichen Einkünften verfügt, beantragte er die Kostenübernahme beim beklagten Land Berlin. Dort wurde der Antrag abgelehnt mit der Begründung, dass die Kosten der Freizeitgestaltung wie die Ausübung eines Hobbys nicht zu den Aufgaben der Eingliederungshilfe gehört.

Das Sozialgericht Berlin sprach dem Kläger einen bestimmten Stundenumfang an Dolmetscherstunden als Assistenzleistungen zu, für die der Beklagte die Kosten im Rahmen der Eingliederungshilfe zu tragen hat. Das LSG bestätigte im Wesentlichen das Urteil des Sozialgerichts.

Das LSG führt aus, dass sowohl nach alter Rechtslage als auch nach neuer Rechtslage die Ausübung einer ehrenamtlichen Tätigkeit als Teilhabe am gemeinschaftlichen und kulturellen Leben anzusehen ist. Die Freizeitgestaltung solle durch die Eingliederungshilfeleistung derjenigen eines nichtbehinderten Menschen soweit wie möglich angeglichen werden. Dies sei mit der von dem Kläger begehrten Assistenzleistung zu ermöglichen.

§ 78 Absatz 5 SGB IX regelt, dass leistungsberechtigten Personen, die ein Ehrenamt ausüben, angemessene Aufwendungen für eine notwendige Unterstützung zu erstatten sind, soweit die Unterstützung nicht zumutbar unentgeltlich erbracht werden kann. Die notwendige Unterstützung soll hierbei vorrangig im Rahmen familiärer, freundschaftlicher, nachbarschaftlicher oder ähnlich persönlicher Beziehungen erbracht werden. Das LSG kommt zu dem Ergebnis, dass eine unentgeltliche Erbringung der Leistungen bei dem Kläger nicht möglich ist. Die Kosten des Gebärdendolmetschers können auch nicht vollständig durch Dritte übernommen werden. Der Kläger hatte sich hier um eine Übernahme der Kosten durch die entsprechenden Verbände bemüht, die dies abgelehnt hatten. Zwar sieht das Gericht das Problem, dass die Dolmetscherkosten verhältnismäßig hoch sind, hält diese Kosten aber trotzdem für "angemessen" im Sinne des Gesetzes, da nur so die Ziele der Eingliederungshilfe bei dem Kläger erreicht werden können.

Anmerkung:

§ 78 Absatz 5 SGB IX regelt, dass die Betroffenen unter bestimmten Voraussetzungen Anspruch auf die Kostenübernahme von Assistenzleistungen für die Ausübung eines Ehrenamtes haben. Es ist zum einen nachzuweisen, dass die notwendige Unterstützung nicht ebenfalls ehrenamtlich durch Familie, Freunde, Nachbarn etc. erbracht werden kann. Ferner muss nachgewiesen werden, dass keine anderweitigen Finanzierungsquellen für die anfallenden Kosten zur Verfügung stehen. Die betroffene Person darf auch selbst nicht über ausreichend Einkommen und/oder Vermögen verfügen. Zuletzt müssen die Aufwendungen hierfür angemessen sein. Das LSG hat die Aufwendungen im vorliegenden Fall u.a. deshalb für angemessen gehalten, weil mit dem äußerst populären Breitensport Fußball eine besonders gute Integrationsmöglichkeit in die Gesellschaft zur Verfügung steht.


Blindenspezifische Schulung kann zusätzlicher Bedarf sein, der neben den Kosten der besonderen Wohnform vom Teilhabeamt zu übernehmen ist.

(Urteil des SG Berlin vom 17.02.2020, S 184 SO 54/18)

Das Sozialgericht (SG) Berlin hatte darüber zu entscheiden, ob der zuständige Eingliederungshilfeträger die Kosten einer blindenspezifischen Schulung in lebenspraktischen Fähigkeiten, die vom Allgemeinen Blinden- und Sehbehindertenverein Berlin (ABSV) angeboten wird, neben den Kosten für die Betreuung in der Besonderen Wohnform zu übernehmen hat.

Die Kläger leidet u.a. an einem frühkindlichen Autismus, einer globalen Entwicklungsstörung und beidseitiger Blindheit. Im September 2016 zog er aus dem Elternhaus in die Besondere Wohnform um. Er beantragte darüber hinaus die Kostenübernahme für die Rehabilitationsschulung des ABSV beim Beklagten. Die Krankenkasse hatte die Kostenübernahme hierfür zuvor abgelehnt. Der Beklagte verweigerte die Übernahme der Kosten ebenfalls mit der Begründung, dass der Träger der Besonderen Wohnform sämtliche Bedarfe des Klägers zu decken hat.

Das Gericht sprach dem Kläger einen Anspruch auf Kostenübernahme der blindenspezifischen Schulung neben den bereits für die Besondere Wohnform übernommenen Kosten zu.

Aus Sicht des Gerichts hat der Träger der Besonderen Wohnform aufgrund eines weit gefassten Leistungskatalogs, den er mit dem Kläger im Wohn- und Betreuungsvertrag vereinbart hat und des mit dem Beklagten im Rahmenvertrag und der Leistungs- und Vergütungsvereinbarung vereinbarten Leistungsumfangs grundsätzlich alle Bedarfe zu decken, die er nach seinem Konzept anbietet und mit seinem Personal erbringen kann. Allerdings sei der Träger nicht darauf spezialisiert, auch lebenspraktische Leistungen für blinde Menschen zu erbringen. Er verfüge nicht über entsprechendes Fachpersonal. Der Kläger war in die Einrichtung des Trägers eingezogen, da er ein spezifischeres Wohn- und Betreuungsangebot für Menschen mit geistiger Behinderung und Blindheit nicht finden konnte. Aus diesem Grund habe er gegen den Beklagten einen Anspruch auf Übernahme der Kosten der blindenspezifischen Schulung.

Anmerkung:

Erfreulicherweise geht auch das Sozialgericht Berlin nicht davon aus, dass die Träger der Behindertenhilfe sämtliche denkbare Bedarfe ihrer Betreuten in der Besonderen Wohnform abzudecken haben. Zugleich verdeutlicht das Urteil, dass bei Neuabschluss von Wohn- und Betreuungsverträgen nach Abschluss der BTHG-Reform der Leistungskatalog der von den Trägern vorzuhaltenden Leistungen sehr viel genauer und spezifischer gefasst werden sollte, um nicht dazu gezwungen zu sein Leistungen zu erbringen, die nicht zum eigenen Leistungsangebot gehören.


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Fotos: © Dirk Felmeden (Bundessozialgericht); LSG Berlin-Brandenburg


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