Neues aus der Rechtsprechung
Das Anziehen von Kompressionsstrümpfen kann qualifizierte Behandlungspflege sein.
(BSG, Urteil v. 07.05.2020, B 3 KR 4/19 R)
Das
Bundessozialgericht (BSG) hatte darüber zu entscheiden, ob die
Bewohnerin einer besonderen Wohnform Anspruch auf häusliche
Krankenpflege in Form der Kostenübernahme für die Beauftragung eines
externen Pflegedienstes für das Anziehen von Kompressionsstrümpfen hat.
Der Bewohnerin war von ihrer Ärztin das "Anziehen
von Kompressionsstrümpfen 1x täglich" verordnet worden. Sie attestierte,
dass die Klägerin körperlich und geistig nicht in der Lage sei, die
Kompressionsstrümpfe allein anzuziehen und Hilfe bei allen Dingen des
täglichen Lebens benötige. Die Krankenkasse lehnte die Kostenübernahme
ab mit der Begründung, dass das Anziehen der Kompressionsstrümpfe als
einfachste Leistung der Behandlungspflege von der Wohneinrichtung zu
übernehmen sei. Das Sozial- und Landessozialgericht gaben der
Krankenkasse Recht. Das Bundessozialgericht hob die Entscheidung auf und
verwies sie zurück an das Landessozialgericht zur erneuten
Entscheidung.
Das BSG stellte klar, dass seine Entscheidungen aus
dem Jahr 2015, wonach des "Anziehen von Thrombosestrümpfen" einfachste
Leistung der Behandlungspflege sei, die von den Mitarbeitern der
Behindertenhilfe zu erbringen ist, nicht auf Kompressionsstrümpfe zu
übertragen ist. Der Begriff der "Thrombosestrümpfe" beziehe sich
lediglich auf nicht verordnungspflichtige Strümpfe, bei deren Anziehen
zur Vermeidung von Thrombosen im Rahmen einfacher Krankenhilfe
Mitarbeiter der Behindertenhilfe unterstützen müssen.
Das BSG stellt klar, dass die Richtlinie zur
häuslichen Krankenpflege vom gemeinsamen Bundesausschuss mittlerweile
das Anziehen von Kompressionstrümpfen ab der Klasse I, damit der Klassen
I bis IV umfasst. Im Rahmen der von der Einrichtung geschuldeten
Leistungen habe diese grundsätzlich nur einfachste Maßnahmen der
medizinischen Behandlungspflege zu erbringen, für die es keiner
medizinischen Sachkunde und keiner medizinischen Fertigkeiten bedarf,
sodass sie von den Mitarbeitern der Einrichtung ohne weiteres erbracht
werden kann. Es sei in jedem Einzelfall zu prüfen, ob die
Behindertenhilfeeinrichtung nach ihrem Aufgabenprofil, der Ausrichtung
auf ein bestimmtes Bewohnerklientel und insbesondere aufgrund ihrer
sächlichen und personellen Ausstattung Leistungen der Behandlungspflege
zu erbringen hat. Beim Anziehen von Kompressionsstrümpfen kann sich aus
Sicht des Gerichts der Gesundheitszustand der Betroffenen
verschlechtern, wenn die Strümpfe nicht sachgerecht angezogen werden. Es
komme daher im Einzelfall darauf an, welche Klasse an
Kompressionsstrümpfen verordnet worden war und ob die Betroffene
Erkrankungen habe, die die Gefahr einer Verschlimmerung bei
unsachgemäßem Anziehen der Strümpfe verstärken.
Das Landessozialgericht muss nun in einem neuen Verfahren sämtliche Kriterien des BSG auf das vorliegende Verfahren anwenden.
Anmerkung:
Das Bundessozialgericht stellt deutlich klar, dass
Behindertenhilfeeinrichtungen keine qualifizierte Behandlungspflege
schulden. Es sind nach Auffassung des Gerichtes nur solche Leistungen
geschuldet, die auch ein Angehöriger im häuslichen Umfeld zu erbringen
hat. Das Anziehen jedenfalls von Kompressionsstrümpfen der Klassen II
bis IV darf damit zukünftig nicht mehr von den Krankenkassen als
Leistung der häuslichen Krankenpflege abgelehnt werden. Ausgenommen
hiervor könnten wohl die Einrichtungen sein, die medizinisches
Fachpersonal beschäftigen, das die Leistungen auch der qualifizierten
Behandlungspflege erbringen kann.
(LSG Baden-Württemberg, Urteil v. 24.04.2020, L 4 KR 3890/17)
Das Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg
hatte darüber zu entscheiden, ob die Krankenkasse die Kosten der
Begleitung des Betroffenen durch Mitarbeiter der
Behindertenhilfeeinrichtung zu tragen hat.
Der Kläger leidet an einer geistigen Behinderung mit
schwerer komplexer Verhaltensstörung mit Auto- und Fremdaggressivität
bei Intelligenzminderung und Blindheit. Wegen eines fortgeschrittenen
Meningeoms erfolgte nach einer Operation mit Teilentfernung des Tumors
eine Strahlentherapie, die ambulant durchgeführt wurde. Der Kläger
beantragte bei der beklagten Krankenkasse die Erstattung der Kosten für
die ständige Begleitung einer Fachkraft aus der Einrichtung, in der er
lebt, i.H.v. 2.991,99 €.
Das LSG Baden-Württemberg wies die Berufung des
Klägers zurück, da er keinen Anspruch auf Kostenerstattung nach dem SGB V
habe. Die Begleitung durch eine Fachkraft falle u.a. nicht unter die
Regelung des § 60 SGB V, wonach Fahrtkosten zur Behandlung zu erstatten
sind. Auch § 11 Absatz 3 SGB V scheide aus, da hier eine Erstattung der
Kosten der Begleitperson nur für eine stationäre Maßnahme geregelt sei,
es sich aber bei der Therapie um eine ambulante Maßnahme gehandelt habe.
Aus Sicht des Gerichts war die Einrichtung, in der
der Kläger lebt, im Rahmen der zum damaligen Zeitpunkt geltenden
Verträge auf Basis von § 75 SGB XII verpflichtet, die Begleitung
sicherzustellen und kann hierfür nur eine Kostenerstattung erhalten,
soweit dies die entsprechenden Vertragswerke vorsehen.
Hinweis:
Entsprechende Möglichkeiten zur Refinanzierung
sollten in der Leistungs- und Vergütungsvereinbarung nach § 125 SGB IX
vereinbart werden. Hier kann man entweder bestimmte Konstellationen
bewusst ausschließen, sodass sie nicht von dem allgemeinen
Leistungspaket umfasst sind oder man vereinbart für bestimmte Leistungen
von vornherein separate Vergütungen.
Die neu gefasste Coronavirus-Testverordnung (TestV) ist am 2. Dezember 2020 in Kraft getreten
Die Anforderungen für Einrichtungen und Dienste der Behindertenhilfe nach der neugefassten TestV gestalten sich wie folgt:
- Die
Regelungen der Verordnung finden Anwendung auf "Einrichtungen und
Unternehmen". Hierzu gehören u.a. besondere Wohnformen und ambulante
Dienste der Behindertenhilfe.
- Die Testungen bei Infektionen in
der Einrichtung oder dem Unternehmen sind in § 3 TestV geregelt.
Hiernach besteht ein Anspruch auf Testung auch asyptomatischer Bewohner,
Mitarbeiter und Besucher, wenn in den zurückliegenden 10 Tagen eine
infizierte Person in der Einrichtung oder dem Unternehmen festgestellt
worden war.
- Gemäß § 4 Absatz 1 TestV haben Bewohner, Mitarbeiter
und Besucher darüber hinaus Anspruch auf einen PoC-Antigen-Test zur
allgemeinen Verhinderung der Ausbreitung des Virus, auch wenn sie
asyptomatisch sind. Voraussetzung hierfür ist ein Testkonzept der
Einrichtung oder des Unternehmens, das die genannten Personengruppen zu
einer entsprechenden Testung verpflichtet.
- Für die
Kostenübernahme auf Basis des Testkonzepts ist ein vorheriger Antrag an
das zuständige Gesundheitsamt nach § 6 Absatz 3 TestV erforderlich. Die
Einrichtungen oder Unternehmen müssen die Feststellung des
Gesundheitsamts beantragen, dass im Rahmen ihres einrichtungs- oder
unternehmensbezogenen Testkonzepts monatlich bestimmte Mengen an
PoC-Antigen-Tests in eigener Verantwortung beschafft und genutzt werden
können. Das Testkonzept ist mit dem Antrag zu übermitteln.
- Die
Gesundheitsämter legen die Menge der PoC-Antigen-Tests unter
Berücksichtigung der Anzahl der Personen fest, die von der Einrichtung
betreut werden. Von besonderen Wohnformen sollen dabei je Bewohner bis
zu 30 PoC-Antigen-Tests und von ambulanten Diensten der Behindertenhilfe
bis zu 15 PoC-Antigen-Tests pro Monat beschafft und genutzt werden (§ 6
Absatz 3 Satz 3 TestV). Solange das Gesundheitsamt den Antrag noch
nicht bewilligt hat, können die zuständigen Einrichtungen und
Unternehmen auf Basis der vorgenannten Mengen immer für bis zu 30 Tage
Tests im Voraus besorgen (§ 6 Absatz 3 Satz 4 TestV). Eine
Kostenerstattung erfolgt aber nur, wenn zuvor der erforderliche Antrag
an das Gesundheitsamt gestellt worden war.
- Gemäß § 7 Absatz 2
Satz 3 TestV erfolgt die Abrechnung der Kosten mit der zuständigen
Kassenärztlichen Vereinigung. Gemäß § 11 TestV werden die Sachkosten
erstattet, maximal aber 9,- € je Test.
Fotos: © Dirk Felmeden (Bundessozialgericht); Deutscher Bundestag