04/2020

Neues aus der Rechtsprechung

 

Das Anziehen von Kompressionsstrümpfen kann qualifizierte Behandlungspflege sein.

(BSG, Urteil v. 07.05.2020, B 3 KR 4/19 R)

Das Bundessozialgericht (BSG) hatte darüber zu entscheiden, ob die Bewohnerin einer besonderen Wohnform Anspruch auf häusliche Krankenpflege in Form der Kostenübernahme für die Beauftragung eines externen Pflegedienstes für das Anziehen von Kompressionsstrümpfen hat.

Der Bewohnerin war von ihrer Ärztin das "Anziehen von Kompressionsstrümpfen 1x täglich" verordnet worden. Sie attestierte, dass die Klägerin körperlich und geistig nicht in der Lage sei, die Kompressionsstrümpfe allein anzuziehen und Hilfe bei allen Dingen des täglichen Lebens benötige. Die Krankenkasse lehnte die Kostenübernahme ab mit der Begründung, dass das Anziehen der Kompressionsstrümpfe als einfachste Leistung der Behandlungspflege von der Wohneinrichtung zu übernehmen sei. Das Sozial- und Landessozialgericht gaben der Krankenkasse Recht. Das Bundessozialgericht hob die Entscheidung auf und verwies sie zurück an das Landessozialgericht zur erneuten Entscheidung.

Das BSG stellte klar, dass seine Entscheidungen aus dem Jahr 2015, wonach des "Anziehen von Thrombosestrümpfen" einfachste Leistung der Behandlungspflege sei, die von den Mitarbeitern der Behindertenhilfe zu erbringen ist, nicht auf Kompressionsstrümpfe zu übertragen ist. Der Begriff der "Thrombosestrümpfe" beziehe sich lediglich auf nicht verordnungspflichtige Strümpfe, bei deren Anziehen zur Vermeidung von Thrombosen im Rahmen einfacher Krankenhilfe Mitarbeiter der Behindertenhilfe unterstützen müssen.

Das BSG stellt klar, dass die Richtlinie zur häuslichen Krankenpflege vom gemeinsamen Bundesausschuss mittlerweile das Anziehen von Kompressionstrümpfen ab der Klasse I, damit der Klassen I bis IV umfasst. Im Rahmen der von der Einrichtung geschuldeten Leistungen habe diese grundsätzlich nur einfachste Maßnahmen der medizinischen Behandlungspflege zu erbringen, für die es keiner medizinischen Sachkunde und keiner medizinischen Fertigkeiten bedarf, sodass sie von den Mitarbeitern der Einrichtung ohne weiteres erbracht werden kann. Es sei in jedem Einzelfall zu prüfen, ob die Behindertenhilfeeinrichtung nach ihrem Aufgabenprofil, der Ausrichtung auf ein bestimmtes Bewohnerklientel und insbesondere aufgrund ihrer sächlichen und personellen Ausstattung Leistungen der Behandlungspflege zu erbringen hat. Beim Anziehen von Kompressionsstrümpfen kann sich aus Sicht des Gerichts der Gesundheitszustand der Betroffenen verschlechtern, wenn die Strümpfe nicht sachgerecht angezogen werden. Es komme daher im Einzelfall darauf an, welche Klasse an Kompressionsstrümpfen verordnet worden war und ob die Betroffene Erkrankungen habe, die die Gefahr einer Verschlimmerung bei unsachgemäßem Anziehen der Strümpfe verstärken.

Das Landessozialgericht muss nun in einem neuen Verfahren sämtliche Kriterien des BSG auf das vorliegende Verfahren anwenden.

Anmerkung:

Das Bundessozialgericht stellt deutlich klar, dass Behindertenhilfeeinrichtungen keine qualifizierte Behandlungspflege schulden. Es sind nach Auffassung des Gerichtes nur solche Leistungen geschuldet, die auch ein Angehöriger im häuslichen Umfeld zu erbringen hat. Das Anziehen jedenfalls von Kompressionsstrümpfen der Klassen II bis IV darf damit zukünftig nicht mehr von den Krankenkassen als Leistung der häuslichen Krankenpflege abgelehnt werden. Ausgenommen hiervor könnten wohl die Einrichtungen sein, die medizinisches Fachpersonal beschäftigen, das die Leistungen auch der qualifizierten Behandlungspflege erbringen kann.


Die Kosten für die notwendige Begleitung zu einer Strahlentherapie sind nicht von der Krankenkasse zu übernehmen.

(LSG Baden-Württemberg, Urteil v. 24.04.2020, L 4 KR 3890/17)

Das Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg hatte darüber zu entscheiden, ob die Krankenkasse die Kosten der Begleitung des Betroffenen durch Mitarbeiter der Behindertenhilfeeinrichtung zu tragen hat.

Der Kläger leidet an einer geistigen Behinderung mit schwerer komplexer Verhaltensstörung mit Auto- und Fremdaggressivität bei Intelligenzminderung und Blindheit. Wegen eines fortgeschrittenen Meningeoms erfolgte nach einer Operation mit Teilentfernung des Tumors eine Strahlentherapie, die ambulant durchgeführt wurde. Der Kläger beantragte bei der beklagten Krankenkasse die Erstattung der Kosten für die ständige Begleitung einer Fachkraft aus der Einrichtung, in der er lebt, i.H.v. 2.991,99 €.

Das LSG Baden-Württemberg wies die Berufung des Klägers zurück, da er keinen Anspruch auf Kostenerstattung nach dem SGB V habe. Die Begleitung durch eine Fachkraft falle u.a. nicht unter die Regelung des § 60 SGB V, wonach Fahrtkosten zur Behandlung zu erstatten sind. Auch § 11 Absatz 3 SGB V scheide aus, da hier eine Erstattung der Kosten der Begleitperson nur für eine stationäre Maßnahme geregelt sei, es sich aber bei der Therapie um eine ambulante Maßnahme gehandelt habe.

Aus Sicht des Gerichts war die Einrichtung, in der der Kläger lebt, im Rahmen der zum damaligen Zeitpunkt geltenden Verträge auf Basis von § 75 SGB XII verpflichtet, die Begleitung sicherzustellen und kann hierfür nur eine Kostenerstattung erhalten, soweit dies die entsprechenden Vertragswerke vorsehen.

Hinweis:

Entsprechende Möglichkeiten zur Refinanzierung sollten in der Leistungs- und Vergütungsvereinbarung nach § 125 SGB IX vereinbart werden. Hier kann man entweder bestimmte Konstellationen bewusst ausschließen, sodass sie nicht von dem allgemeinen Leistungspaket umfasst sind oder man vereinbart für bestimmte Leistungen von vornherein separate Vergütungen.


Neues aus der Gesetzgebung

Die neu gefasste Coronavirus-Testverordnung (TestV) ist am 2. Dezember 2020 in Kraft getreten

Die Anforderungen für Einrichtungen und Dienste der Behindertenhilfe nach der neugefassten TestV gestalten sich wie folgt:

  • Die Regelungen der Verordnung finden Anwendung auf "Einrichtungen und Unternehmen". Hierzu gehören u.a. besondere Wohnformen und ambulante Dienste der Behindertenhilfe.
  • Die Testungen bei Infektionen in der Einrichtung oder dem Unternehmen sind in § 3 TestV geregelt. Hiernach besteht ein Anspruch auf Testung auch asyptomatischer Bewohner, Mitarbeiter und Besucher, wenn in den zurückliegenden 10 Tagen eine infizierte Person in der Einrichtung oder dem Unternehmen festgestellt worden war.
  • Gemäß § 4 Absatz 1 TestV haben Bewohner, Mitarbeiter und Besucher darüber hinaus Anspruch auf einen PoC-Antigen-Test zur allgemeinen Verhinderung der Ausbreitung des Virus, auch wenn sie asyptomatisch sind. Voraussetzung hierfür ist ein Testkonzept der Einrichtung oder des Unternehmens, das die genannten Personengruppen zu einer entsprechenden Testung verpflichtet.
  • Für die Kostenübernahme auf Basis des Testkonzepts ist ein vorheriger Antrag an das zuständige Gesundheitsamt nach § 6 Absatz 3 TestV erforderlich. Die Einrichtungen oder Unternehmen müssen die Feststellung des Gesundheitsamts beantragen, dass im Rahmen ihres einrichtungs- oder unternehmensbezogenen Testkonzepts monatlich bestimmte Mengen an PoC-Antigen-Tests in eigener Verantwortung beschafft und genutzt werden können. Das Testkonzept ist mit dem Antrag zu übermitteln.
  • Die Gesundheitsämter legen die Menge der PoC-Antigen-Tests unter Berücksichtigung der Anzahl der Personen fest, die von der Einrichtung betreut werden. Von besonderen Wohnformen sollen dabei je Bewohner bis zu 30 PoC-Antigen-Tests und von ambulanten Diensten der Behindertenhilfe bis zu 15 PoC-Antigen-Tests pro Monat beschafft und genutzt werden (§ 6 Absatz 3 Satz 3 TestV). Solange das Gesundheitsamt den Antrag noch nicht bewilligt hat, können die zuständigen Einrichtungen und Unternehmen auf Basis der vorgenannten Mengen immer für bis zu 30 Tage Tests im Voraus besorgen (§ 6 Absatz 3 Satz 4 TestV). Eine Kostenerstattung erfolgt aber nur, wenn zuvor der erforderliche Antrag an das Gesundheitsamt gestellt worden war.
  • Gemäß § 7 Absatz 2 Satz 3 TestV erfolgt die Abrechnung der Kosten mit der zuständigen Kassenärztlichen Vereinigung. Gemäß § 11 TestV werden die Sachkosten erstattet, maximal aber 9,- € je Test.

Wir wünschen Ihnen geruhsame Weihnachtstage und ein glückliches und insbesondere gesundes neues Jahr.

Fotos: © Dirk Felmeden (Bundessozialgericht); Deutscher Bundestag


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