Neues aus der Rechtsprechung
Voraussetzungen einer Kündigung des Wohn- und Betreuungsvertrags wegen "schuldhafter gröblicher Pflichtverletzung".
(LG Berlin, Urteil v. 06.05.2020, 65 S 264/19)
Das
Landgericht (LG) Berlin hatte darüber zu entscheiden, ob der
Mietvertrag und der damit verkoppelte Betreuungsvertrag einer Bewohnerin
einer Wohngemeinschaft für psychisch erkrankte Menschen durch fristlose
Kündigungen des Trägers der Behindertenhilfe beendet worden war. Dieser
hatte fristlose Kündigungen nach § 12 Absatz 1 Satz 3 Nr. 3 Wohn- und
Betreuungsvertragsgesetz (WBVG) wegen schuldhafter gröblicher
Pflichtverletzung sowie hilfsweise aus einem sonstigen wichtigen Grund
gegenüber der Bewohnerin ausgesprochen.
Die Bewohnerin hatte sich zuvor unter anderem
wiederholt laut und verbal sowie körperlich aggressiv gegenüber
Mitarbeitenden und Mitbewohnern verhalten, wobei die körperliche
Aggressivität im Wesentlichen im Festhalten der Hand oder des Armes
einer anderen Person bestand. Darüber hinaus hatte sie zu
unterschiedlichen Zeiten laut geschrien und damit auch die weitere
Nachbarschaft gestört.
Das Landgericht Berlin kam - wie auch schon zuvor
das Amtgericht Neukölln - zu dem Ergebnis, dass die gegenüber der
Bewohnerin ausgesprochenen fristlosen Kündigungen rechtswidrig waren, da
die einzelnen Verhaltensweisen der Bewohnerin keine Kündigung nach § 12
Absatz 1 WBVG rechtfertigen. § 12 Absatz 1 Satz 3 Nr. 3 WBVG setze
voraus, dass die Bewohnerin schuldfähig ist. Das war vorliegend nicht
gegeben. Aus Sicht des Gerichts kommt eine Kündigung auch aus einem
sonstigen wichtigen Grund nach § 12 Absatz 1 Satz 1 WBVG in Betracht,
was keine Schuldfähigkeit voraussetze. Allerdings muss in beiden Fällen
eine erhebliche Gefahr für die Mitarbeitenden und Mitbewohner bestanden
haben. Aus Sicht des Landgerichts war das bei den Verhaltensweisen der
Bewohnerin nicht der Fall. Ferner muss das Festhalten des Trägers am
Vertrag diesem unzumutbar sein. Auch das ist nach Auffassung des
Gerichtes nicht der Fall. Auf die Verhaltensweisen der Bewohnerin wäre
nach Einschätzung des Landgerichts mit geeigneten Betreuungsmaßnahmen zu
reagieren gewesen.
Anmerkung:
Für eine Kündigung nach § 12 Absatz 1 Satz 3 Nr. 3
WBVG ist neben dem groben Pflichtenverstoß des Klienten
Grundvoraussetzung, dass der Betroffene geschäftsfähig und damit
schuldfähig ist. Es ist den Trägern der Behindertenhilfe zu raten, bei
Einzug mit den Klienten eine Vereinbarung zum Ausschluss der
Vertragsanpassung nach § 8 Absatz 4 WBVG zu schließen. Hierin können als
Ausschlusskriterien einer Vertragsanpassung und damit als
Kündigungsgrund (§ 12 Absatz 1 Satz 3 Nr. 2 b) WBVG) verbale und
körperliche Aggressionen gegen Dritte sowie Sachaggressionen aufgenommen
werden. Allerdings ist unter Anwendung des vorliegenden Urteils eine
hierauf gestützte fristlose Kündigung nur erfolgversprechend, wenn der
Umfang der Aggressionen gegen Dritte und gegen Sachen ganz erheblich ist
und die Fortsetzung des Vertragsverhältnisses für die Einrichtung
dadurch nicht mehr zumutbar ist.
(EuGH, 2 Vorabentscheidungen v. 09.03.2021, C-344/19 und C-580/19)
Der
Europäische Gerichtshof (EuGH) hatte darüber zu entscheiden, wann
Bereitschaftsdienst in Form der Rufbereitschaft Arbeitszeit ist und
damit entsprechend zu vergüten ist. Dem Gericht waren zwei Verfahren zur
Vorabentscheidung vorgelegt worden, eines vom Verwaltungsgericht
Darmstadt.
Der Kläger ist Feuerwehrmann in der Stadt Offenbach
am Main. Neben seiner regulären Dienstzeit musste er regelmäßig
Bereitschaftszeiten in Form von Rufbereitschaft leisten. Während dieser
Zeiten war er nicht verpflichtet, sich an einem von seinem Arbeitgeber
bestimmten Ort aufzuhalten, musste aber erreichbar und in der Lage sein,
im Alarmfall innerhalb von 20 Minuten in seiner Einsatzkleidung und mit
dem ihm zur Verfügung gestellten Einsatzfahrzeug die Stadtgrenzen zu
erreichen. Aus Sicht des Klägers stellt diese Form der Rufbereitschaft
Arbeitszeit dar, da er hierdurch erheblich in seiner Freizeitgestaltung
eingeschränkt ist.
Nach Auffassung des EuGH fällt auch die
Rufbereitschaft in vollem Umfang unter den Begriff „Arbeitszeit", wenn
die während der Rufbereitschaft dem Arbeitnehmer auferlegten
Einschränkungen seine Freizeitgestaltung objektiv ganz erheblich
beeinträchtigen. Umgekehrt ist, wenn es keine solchen Einschränkungen
gibt, nur die Zeit als „Arbeitszeit" anzusehen, in der während solcher
Bereitschaftszeiten tatsächlich Arbeitsleistung erbracht wird. Nach
Auffassung des Gerichts können bei der Beurteilung, ob eine
Bereitschaftszeit „Arbeitszeit" darstellt, nur Einschränkungen
berücksichtigt werden, die dem Arbeitnehmer durch nationale
Rechtsvorschriften, durch einen Tarifvertrag oder durch seinen
Arbeitgeber auferlegt werden. Dagegen sind organisatorische
Schwierigkeiten unbeachtlich, die eine Bereitschaftszeit infolge
natürlicher Gegebenheiten oder der freien Entscheidung des Arbeitnehmers
für ihn mit sich bringen kann. Dies sei beispielsweise dann der Fall,
wenn das Gebiet, das der Arbeitnehmer während einer Bereitschaftszeit in
Form von Rufbereitschaft praktisch nicht verlassen kann, nur wenige
Möglichkeiten für Freizeitaktivitäten bietet.
Hinweis:
Das Verwaltungsgericht Darmstadt hat nun anhand der
vorgenannten, vom EuGH aufgestellten Kriterien zur Rufbereitschaft
konkret zu prüfen, ob die Rufbereitschaft des klagenden Feuerwehrmannes
Arbeitszeit ist oder nicht.
Wie haben sich gesetzliche Betreuer hinsichtlich der Coronavirus-Impfung zu verhalten?
Personen mit Trisomie 21 sowie Personen mit einer
Demenz oder mit einer geistigen Behinderung oder mit schwerer
psychiatrischer Erkrankung (insbesondere bipolare Störung, Schizophrenie
oder schwere Depression) gehören nach § 3 Absatz 1 Nr. 2 a) und c)
Coronavirus-Impfverordnung zu den besonders schutzwürdigen
Personenkreisen und befinden sich in Priorisierungsgruppe 2. Die
Impfungen für diese Personengruppen laufen derzeit an.
Für die Träger der Behindertenhilfe und die
rechtlichen Betreuer stellen sich rechtliche Fragen zur Einwilligung in
die Impfungen, daher ein kurzer Überblick zur Rechtslage:
- Nur
rechtliche Betreuer mit dem Aufgabenkreis "Gesundheitssorge" müssen für
die betroffenen Personen einwilligen. Ist der Aufgabenkreis nicht
vergeben, entscheidet die betroffene Person selbst, ob sie geimpft
werden will oder nicht.
- Die rechtlichen Betreuer mit dem
Aufgabenkreis "Gesundheitssorge" haben den Willen der Betroffenen
umzusetzen. Wollen diese geimpft werden, haben die gesetzlichen Betreuer
einzuwilligen. Wollen die Betroffenen nicht geimpft werden, darf keine
Einwilligung erteilt werden. Sind die Betroffenen nicht in der Lage dazu
einen eigenen Willen zum Ausdruck zu bringen, müssen die rechtlichen
Betreuer nach dem "mutmaßlichen" Willen der Betroffenen entscheiden.
Hierfür dürfen sie keine eigenen Entscheidungsmaßstäbe ansetzen, bspw.
die Impfung ablehnen, weil sie selbst nicht geimpft werden wollen.
- Gemäß
§ 1904 Absatz 1 BGB ist keine Einwilligung des Betreuungsgerichts in
die Impfung erforderlich, da es sich bei der Impfung nicht um eine
Heilbehandlung handelt, bei der die begründete Gefahr besteht, dass die
geimpften Personen versterben oder schwere dauerhafte Gesundheitsschäden
behalten.
- Gemäß § 1904 Absatz 2 BGB ist für die
Nichteinwilligung in die Impfung hingegen eine Genehmigung des
Betreuungsgerichts erforderlich, da aufgrund des Unterlassens der
Impfung die begründete Gefahr besteht, dass die betroffenen Personen
aufgrund einer COVID-19-Infektion versterben oder schwere dauerhafte
Gesundheitsschäden behalten.
Weitere Informationen finden Sie in der Stellungnahme des Betreuungsgerichtstag e.V.
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