01/2021

Neues aus der Rechtsprechung

 

Voraussetzungen einer Kündigung des Wohn- und Betreuungsvertrags wegen "schuldhafter gröblicher Pflichtverletzung".

(LG Berlin, Urteil v. 06.05.2020, 65 S 264/19)

Das Landgericht (LG) Berlin hatte darüber zu entscheiden, ob der Mietvertrag und der damit verkoppelte Betreuungsvertrag einer Bewohnerin einer Wohngemeinschaft für psychisch erkrankte Menschen durch fristlose Kündigungen des Trägers der Behindertenhilfe beendet worden war. Dieser hatte fristlose Kündigungen nach § 12 Absatz 1 Satz 3 Nr. 3 Wohn- und Betreuungsvertragsgesetz (WBVG) wegen schuldhafter gröblicher Pflichtverletzung sowie hilfsweise aus einem sonstigen wichtigen Grund gegenüber der Bewohnerin ausgesprochen.

Die Bewohnerin hatte sich zuvor unter anderem wiederholt laut und verbal sowie körperlich aggressiv gegenüber Mitarbeitenden und Mitbewohnern verhalten, wobei die körperliche Aggressivität im Wesentlichen im Festhalten der Hand oder des Armes einer anderen Person bestand. Darüber hinaus hatte sie zu unterschiedlichen Zeiten laut geschrien und damit auch die weitere Nachbarschaft gestört.

Das Landgericht Berlin kam - wie auch schon zuvor das Amtgericht Neukölln - zu dem Ergebnis, dass die gegenüber der Bewohnerin ausgesprochenen fristlosen Kündigungen rechtswidrig waren, da die einzelnen Verhaltensweisen der Bewohnerin keine Kündigung nach § 12 Absatz 1 WBVG rechtfertigen. § 12 Absatz 1 Satz 3 Nr. 3 WBVG setze voraus, dass die Bewohnerin schuldfähig ist. Das war vorliegend nicht gegeben. Aus Sicht des Gerichts kommt eine Kündigung auch aus einem sonstigen wichtigen Grund nach § 12 Absatz 1 Satz 1 WBVG in Betracht, was keine Schuldfähigkeit voraussetze. Allerdings muss in beiden Fällen eine erhebliche Gefahr für die Mitarbeitenden und Mitbewohner bestanden haben. Aus Sicht des Landgerichts war das bei den Verhaltensweisen der Bewohnerin nicht der Fall. Ferner muss das Festhalten des Trägers am Vertrag diesem unzumutbar sein. Auch das ist nach Auffassung des Gerichtes nicht der Fall. Auf die Verhaltensweisen der Bewohnerin wäre nach Einschätzung des Landgerichts mit geeigneten Betreuungsmaßnahmen zu reagieren gewesen.

Anmerkung:

Für eine Kündigung nach § 12 Absatz 1 Satz 3 Nr. 3 WBVG ist neben dem groben Pflichtenverstoß des Klienten Grundvoraussetzung, dass der Betroffene geschäftsfähig und damit schuldfähig ist. Es ist den Trägern der Behindertenhilfe zu raten, bei Einzug mit den Klienten eine Vereinbarung zum Ausschluss der Vertragsanpassung nach § 8 Absatz 4 WBVG zu schließen. Hierin können als Ausschlusskriterien einer Vertragsanpassung und damit als Kündigungsgrund (§ 12 Absatz 1 Satz 3 Nr. 2 b) WBVG) verbale und körperliche Aggressionen gegen Dritte sowie Sachaggressionen aufgenommen werden. Allerdings ist unter Anwendung des vorliegenden Urteils eine hierauf gestützte fristlose Kündigung nur erfolgversprechend, wenn der Umfang der Aggressionen gegen Dritte und gegen Sachen ganz erheblich ist und die Fortsetzung des Vertragsverhältnisses für die Einrichtung dadurch nicht mehr zumutbar ist.


Zur Einordnung von Bereitschaftsdiensten in Form der Rufbereitschaft als Arbeitszeit.

(EuGH, 2 Vorabentscheidungen v. 09.03.2021, C-344/19 und C-580/19)

Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hatte darüber zu entscheiden, wann Bereitschaftsdienst in Form der Rufbereitschaft Arbeitszeit ist und damit entsprechend zu vergüten ist. Dem Gericht waren zwei Verfahren zur Vorabentscheidung vorgelegt worden, eines vom Verwaltungsgericht Darmstadt.

Der Kläger ist Feuerwehrmann in der Stadt Offenbach am Main. Neben seiner regulären Dienstzeit musste er regelmäßig Bereitschaftszeiten in Form von Rufbereitschaft leisten. Während dieser Zeiten war er nicht verpflichtet, sich an einem von seinem Arbeitgeber bestimmten Ort aufzuhalten, musste aber erreichbar und in der Lage sein, im Alarmfall innerhalb von 20 Minuten in seiner Einsatzkleidung und mit dem ihm zur Verfügung gestellten Einsatzfahrzeug die Stadtgrenzen zu erreichen. Aus Sicht des Klägers stellt diese Form der Rufbereitschaft Arbeitszeit dar, da er hierdurch erheblich in seiner Freizeitgestaltung eingeschränkt ist.

Nach Auffassung des EuGH fällt auch die Rufbereitschaft in vollem Umfang unter den Begriff „Arbeitszeit", wenn die während der Rufbereitschaft dem Arbeitnehmer auferlegten Einschränkungen seine Freizeitgestaltung objektiv ganz erheblich beeinträchtigen. Umgekehrt ist, wenn es keine solchen Einschränkungen gibt, nur die Zeit als „Arbeitszeit" anzusehen, in der während solcher Bereitschaftszeiten tatsächlich Arbeitsleistung erbracht wird. Nach Auffassung des Gerichts können bei der Beurteilung, ob eine Bereitschaftszeit „Arbeitszeit" darstellt, nur Einschränkungen berücksichtigt werden, die dem Arbeitnehmer durch nationale Rechtsvorschriften, durch einen Tarifvertrag oder durch seinen Arbeitgeber auferlegt werden. Dagegen sind organisatorische Schwierigkeiten unbeachtlich, die eine Bereitschaftszeit infolge natürlicher Gegebenheiten oder der freien Entscheidung des Arbeitnehmers für ihn mit sich bringen kann. Dies sei beispielsweise dann der Fall, wenn das Gebiet, das der Arbeitnehmer während einer Bereitschaftszeit in Form von Rufbereitschaft praktisch nicht verlassen kann, nur wenige Möglichkeiten für Freizeitaktivitäten bietet.

Hinweis:

Das Verwaltungsgericht Darmstadt hat nun anhand der vorgenannten, vom EuGH aufgestellten Kriterien zur Rufbereitschaft konkret zu prüfen, ob die Rufbereitschaft des klagenden Feuerwehrmannes Arbeitszeit ist oder nicht.


Aktuelle Rechtsfrage

Wie haben sich gesetzliche Betreuer hinsichtlich der Coronavirus-Impfung zu verhalten?

Personen mit Trisomie 21 sowie Personen mit einer Demenz oder mit einer geistigen Behinderung oder mit schwerer psychiatrischer Erkrankung (insbesondere bipolare Störung, Schizophrenie oder schwere Depression) gehören nach § 3 Absatz 1 Nr. 2 a) und c) Coronavirus-Impfverordnung zu den besonders schutzwürdigen Personenkreisen und befinden sich in Priorisierungsgruppe 2. Die Impfungen für diese Personengruppen laufen derzeit an.

Für die Träger der Behindertenhilfe und die rechtlichen Betreuer stellen sich rechtliche Fragen zur Einwilligung in die Impfungen, daher ein kurzer Überblick zur Rechtslage:

  • Nur rechtliche Betreuer mit dem Aufgabenkreis "Gesundheitssorge" müssen für die betroffenen Personen einwilligen. Ist der Aufgabenkreis nicht vergeben, entscheidet die betroffene Person selbst, ob sie geimpft werden will oder nicht.
  • Die rechtlichen Betreuer mit dem Aufgabenkreis "Gesundheitssorge" haben den Willen der Betroffenen umzusetzen. Wollen diese geimpft werden, haben die gesetzlichen Betreuer einzuwilligen. Wollen die Betroffenen nicht geimpft werden, darf keine Einwilligung erteilt werden. Sind die Betroffenen nicht in der Lage dazu einen eigenen Willen zum Ausdruck zu bringen, müssen die rechtlichen Betreuer nach dem "mutmaßlichen" Willen der Betroffenen entscheiden. Hierfür dürfen sie keine eigenen Entscheidungsmaßstäbe ansetzen, bspw. die Impfung ablehnen, weil sie selbst nicht geimpft werden wollen.
  • Gemäß § 1904 Absatz 1 BGB ist keine Einwilligung des Betreuungsgerichts in die Impfung erforderlich, da es sich bei der Impfung nicht um eine Heilbehandlung handelt, bei der die begründete Gefahr besteht, dass die geimpften Personen versterben oder schwere dauerhafte Gesundheitsschäden behalten.
  • Gemäß § 1904 Absatz 2 BGB ist für die Nichteinwilligung in die Impfung hingegen eine Genehmigung des Betreuungsgerichts erforderlich, da aufgrund des Unterlassens der Impfung die begründete Gefahr besteht, dass die betroffenen Personen aufgrund einer COVID-19-Infektion versterben oder schwere dauerhafte Gesundheitsschäden behalten.

Weitere Informationen finden Sie in der Stellungnahme des Betreuungsgerichtstag e.V.


Wir wünschen Ihnen schöne Ostertage. Bleiben Sie gesund.

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